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Schöpflins Aufsatz zur Ingelheimer "Kaiserpalast" und Lameys Expedition

 

Autor: Hartmut Geissler

nach: Fester, Richard: Johann Daniel Schöpflins brieflicher Verkehr mit Gönnern, Freunden und Schülern / Hg. v. Richard Fester. Tübingen: Litterar. Verein 1906,
Voss, Jürgen: Universität, Geschichtswissenschaft und Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung: Johann Daniel Schöpflin (1694-1771). München, 1979,
Voss, Jürgen: Wissenschaftliche und diplomatische Korrespondenz / Johann Daniel Schöpflin. Stuttgart: Thorbecke 2002

sowie nach dem noch nicht veröffentlichten handschriftlichen Reiseberichtskonzept Lameys (im GLA Karlsruhe)

Schöpflins Aufsatz online (noch am 20.12.21)
 

Johann Daniel Schöpflin

Als erster neuzeitlicher Wissenschaftler veröffentlichte Schöpflin (*1694 † 1771) einen lateinischen Aufsatz über die Geschichte und die Ruinen des kaiserlichen Ingelheimer Palastes („De Caesareo Ingelheimensi Palatio"), und zwar im ersten Forschungsberichtsband der Mannheimer Akademie 1766. Er hätte "Palatio" sicher nicht als "Pfalz" übersetzt, da dieser Begriff mittlerweile durch die "Pfalz bei Rhein", die Kurpfalz, belegt war, sondern wie schon Sebastian Münster als "Schloß" oder "Palast". Dabei dachte man damals nicht mehr an ganze Regierungsviertel einer ländlichen karolingischen Pfalz, die man gar nicht mehr kannte, sondern an Paläste, wie man sie seit dem Hochmittelalter kannte, wie etwa den Palas einer Burg.

Schon sein Aufsatz über das Kanalbauprojekt Karls des Großen von 793 (Verbindung von Rhein-Main-Donau durch die Altmühl), der 1753 im 18. Band der Königlichen Akademie der Inschriften und der Literatur in Paris (siehe unten) veröffentlicht wurde, zeigt aber seine umfassende Kenntnis der mittelalterlichen lateinischen Quellen.

Schöpflin, geboren in Sulzburg (Markgrafschaft Baden-Durlach), ging in Durlach und Basel auf das Gymnasium und begann in Basel mit 13 Jahren ein Studium. Ab 1711 lebte er in Straßburg und war dort 50 Jahre lang Professor für Geschichte und Rhetorik (Goethe lernte ihn dort kennen), aber auch  Gründer und Ehrenpräsident der Mannheimer Akademie.

"Schöpflin war in diese europäische Akademiebewegung hineingewachsen und wurde schließlich einer ihrer wirksamsten Verfechter." Er war Mitglied in folgenden wissenschaftlichen Gesellschaften (Voss 1979, S. 187 bzw. 341):

- Royal society, London
- Académie des Inscriptions et Belles Lettres, Paris
- Cortona
- Petersburg
- Besançon
- Göttingen
- Mannheim

In den 1720er und 1730er Jahren unternahm er ausgedehnte Forschungsreisen durch Frankreich, Italien, nach England, durch die Niederlande, durch das Reich und durch die Schweiz. Nach Paris bzw. Versailles reiste er mehrfach.

Durch seine guten Kontakte nicht nur zum französischen Königshof, sondern auch zu deutschen Fürstenhäusern, wurde er mehrfach diplomatisch tätig, so 1727/28 in England (unter dem Vorwand wissenschaftlicher Recherchen). Berufsdiplomat konnte er zwar wegen seiner bürgerlichen Herkunft nicht werden, aber er wurde immer wieder vom Außenministerium in Versailles konsultiert und konnte sich sogar schlichtend in Konflikten am Oberrhein betätigen. Im polnischen Erbfolgekrieg 1733 wurde er von der französischen Regierung beauftragt, ein Manifest mit den französischen Positionen als Antwort auf ein österreichisches Positionspapier zu verfassen.

Seine wichtigsten historischen Werke befassen sich mit der Geschichte des Elsass ("Alsatia Illustrata", 1751-1761) und der badischen Dynastie-Geschichte ("Historia Zaringo-Badensis", 1763-1766).

"Ab 1752 zählte der Professor in Straßburg praktisch zu den Honoratioren." (Voss 1979, S. 46) In der Form einer privaten Lehreinrichtung gründete er neben seiner Universitätstätigkeit eine Diplomatenschule, die einen guten Ruf besaß und nach seinem Tode weiter geführt wurde.

Kein anderer Professor der Straßburger Universität erhielt im 18. Jahrhundert so viele Berufungen an auswärtige Forschungseinrichtungen wie Schöpflin. Er lehnte sie alle ab und blieb unverheiratet in Straßburg. Nach seinem Tod 1771 wurde er ausnahmsweise mit einem Grab in der Straßburger St. Thomas-Kirche geehrt.

Voss charakterisierte ihn zusammenfassend: "Johann Daniel Schöpflin ist eine Persönlichkeit, die in ihrer Funktion als Hochschullehrer, Diplomat, Gelehrter und Wissenschaftsorganisator das Aufklärungszeitalter in vielen Formen repräsentiert." (1979, S. 336)

 

Zur Entstehungsgeschichte des Aufsatzes über den Ingelheimer Palast

Einmal ist er nach eigener Aussage in der Postkutsche am Ingelheimer Saal vorbeigefahren, hat aber nicht angehalten (Brief vom 12.11.1763). Gleichwohl gilt er als der erste moderne Forscher der Ingelheimer „Kaiserpfalz“, wie sie heute genannt wird. Schon in seiner Geschichte des Elsass hatte sich Schöpflin mit mittelalterlichen Pfalzen beschäftigt (Voss 1979, S. 306).

Er stützte sich dabei in erster Linie auf ihr zahlreichen Erwähnungen in mittelalterlichen Texten, aber auch auf einen Reisebericht („Itineraire“) seines Schülers und engen Vertrauten, des Mannheimer Akademiesekretärs Andreas Lamey, sowie auf die Skizzen, die 1764 bei dessen Besuch des Ingelheimer Saalgebietes angefertigt worden waren. 

Die Gründung der Mannheimer Akademie im Oktober 1763, nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, brachte nicht nur den Naturwissenschaften, sondern auch der historischen Forschung in der Kurpfalz einen enormen Aufschwung. Im Zentrum des Interesses stand dabei natürlich die pfälzische Landesgeschichte, wie es Schöpflin in seiner Audienz bei dem Kurfürsten Karl-Theodor in Schwetzingen (1759) geraten hatte.

Daraus ergaben sich mehrere Archiv-Recherchen und Forschungsreisen, die Lamey „voyages litteraires“ nennt, zur antiken und mittelalterlichen Vergangenheit der Regionen, die damals zur Kurpfalz gehörten. Ingelheim war mit dem Ingelheimer Grund durch die Verpfändungen ab 1375/76 an die Kurpfalz gekommen und daher im Jahre 1766 schon fast vierhundert Jahre lang kurpfälzisch. Diese Tatsache führt Schöpflin ausdrücklich als Begründung für seine Veröffentlichung in den "Acta" der Mannheimer Akademie an (s.u.). In diesen landesgeschichtlichen Zusammenhang muss man Schöpflins ausführliche wissenschaftliche Abhandlung zur Geschichte der Ingelheimer Pfalz einordnen, sie war wie andere frühe Beiträge eine Vorarbeit zu einer allgemeinen Geschichte der Pfalzgrafschaft.  

Zur Entstehungsgeschichte des Ingelheimer Aufsatzes sind sowohl Briefe Schöpflins an Lamey (bei Fester) als auch Briefe Lameys an Schöpflin (bei Voss) erhalten; Schöpflins sonstiger Nachlass  ist wahrscheinlich mit dem offiziellen Reisebericht Lameys vernichtet worden, als das Straßburger Archiv durch preußische Bombardierung am 24. August 1870 verbrannte. Im Badischen Generallandesarchiv in Karlsruhe hat sich jedoch ein bisher noch nicht veröffentlichtes Konzept Lameys erhalten, das ich benutzen konnte.

Beide Historiker korrespondierten miteinander sehr freundschaftlich und häufig, ausschließlich in Französisch. Die Zitate aus ihren Briefen habe ich übersetzt. Beide trafen sich auch immer wieder, denn Schöpflin reiste mehrmals im Jahr nach Mannheim, vor allem zu den feierlichen Sitzungen der Akademie im Frühjahr und im Herbst, sofern es seine Gesundheit zuließ, denn er berichtet mehrfach von Erkältungserkrankungen, die ihn am Reisen hinderten.

Schon vor der Forschungsreise Lameys ließ Schöpflin ihn im Kurpfälzer Archiv suchen, weil er hoffte, dort reiche Informationen über Ingelheim zu finden.

Er schrieb am 21. November 1763 an Lamey: „Ich habe eine Vorahnung, dass wir eines Tages schöne Dinge zu Ingelheim in den Archiven finden werden. Vor vier Jahren bin ich einmal durchgegangen, aber ohne mich darin aufzuhalten.“ Der Herausgeber Fester merkte dazu an, dass Schöpflin damit das Kurpfälzer Archiv meinte. Mit der Öffnung der Archive war man damals sehr zurückhaltend, weswegen wohl nur der Direktor der Akademie auf ausdrückliche Weisung der Kurfürsten Zutritt erhielt. Im Brief vom 25. November 1763 berichtete Lamey über dessen Ergebnisse: „Herr von Stengel hat mir gesagt, dass er das Archiv betr. Ingelheim auf Anweisung des Kurfürsten selbst durchsucht habe, aber dass er dort nichts wirklich Altes, Interessantes gefunden habe.“ Johann Georg Anton Freiherr von Stengel (1721-1798) war kurpfälzischer Kanzleidirektor, Staatsrat sowie Direktor der Akademie. Dieses negative Ergebnis muss enttäuschend für Schöpflin gewesen sein.

Im nächsten Jahr wurde aber von Lamey eine Forschungsreise in die linksrheinische Pfalz geplant, darunter auch nach Ingelheim. Kein Brief gibt darüber Auskunft, ob der Entschluss dazu von Lamey auf Bitten Schöpflins (oder anderer Personen) oder aufgrund eigenen Interesses gefasst wurde. Im Brief vom 22. Juni 1764 informierte er Schöpflin, dass die Reise nach Ingelheim für die sitzungsfreie Zeit im September geplant sei, damit man keine Akademiesitzungen versäume, und am 28. August bestätigte er noch einmal die sitzungsfreie Zeit im September als Reisezeitraum. Nach Voss (1979, S. 211) fanden jährlich 40 Sitzungen statt, immer donnerstags, die von zwei jeweils sechswöchigen sitzungsfreien Perioden unterbrochen wurden, den Herbst- und Frühjahrsferien.

Schließlich informiert er Schöpflin am 5. September über die personelle Zusammensetzung seiner Reisegruppe für die Fahrt nach Ingelheim:

"Herr Denys, der Ingenieur, den Sie kennen, hält bisher unsere Forschungsreise auf. Aber es ist beschlossen, dass wir uns die nächste Woche auf den Weg machen, ob mit ihm, ob mit einem anderen Zeichner. Herr Collini, zu sehr mit seiner Sammlung beschäftigt, wird nicht dabei sein; aber ich werde jedenfalls Herrn Kremer als Begleiter haben."

„Herr Denys“: Ferdinand Denis, Ingenieur und Kartograph
„Herr Colini“: Cosimo Alessandro Collini, ordentliches Mitglied der Akademie, kurpfälzischer Historiograph und Leiter des Hof-Naturalienkabinetts, früherer Sekretär Voltaires
„Herr Kremer“: der Historiker Christof Jacob Kremer war Gründungsmitglied der Akademie.

Welcher Zeichner also Lamey und Kremer nach Ingelheim begleitete, geht aus diesen Briefen noch nicht hervor. Es war aber der renommierte Historiker Kremer dabei, der eine hervorragende, auf gleichzeitig editierten Akten beruhende Geschichte des Kurfürsten Friedrich I. "des Siegreichen" verfasst hat. Dem Reiseberichtskonzept Lameys kann man entnehmen, dass nachträglich in Mainz der Portraitmaler (Franz Joseph) Kisling als Zeichner zu ihnen gestoßen sei, der möglicherweise die Abbildung des für Hildegard gehaltenen Karlsbildes gezeichnet hat. Alle von Schöpflin benutzten Abbildungen nennen leider nicht den ursprünglichen Zeichner, sondern nur den Namen des Straßburger Kupferstechers Weis (Sohn).

In dem Antwortbrief vom 22. September 1764 äußerte Schöpflin im Brief seine Freude darüber und bat: „Sie machen also die Reise nach Ingelheim; ich bin entzückt. Lassen Sie einen Lageplan zeichnen, sauber und genau, so dass man zu gegebener Zeit einen Stich anfertigen kann für die Akademieveröffentlichungen. Fahren Sie auch nach Mainz…“

Am 24. September 1764 (laut Reiseberichtskonzept) besuchten Lamey und seine Begleiter Nieder- und Ober-Ingelheim (s. u.). Nach seiner Rückkehr von der dreiwöchigen Reise berichtete er Schöpflin am 9. Oktober 1764:

"Vorgestern bin ich wohlbehalten von unserer Literatur-Exkursion zurückgekommen, beladen mit mehreren Antiquitäten, Inschriften, Urkunden, Epitaphien (bzw. deren Inschriften; Gs), die ich die Ehre haben werde Ihnen bei Ihrer Ankunft hier zu zeigen. Wir haben die Reste des Ingelheimer Palastes und der Kirche, die sich dort noch befindet, zeichnen lassen."

Archäologische Grabungen standen damals außerhalb jeder Vorstellung, man suchte Schriftquellen, also Inschriften und Dokumente in Archiven und hätte auch gar keine Zeit und kein Geld für umfangreiche Grabungen gehabt. Im Antwortbrief vom 17. Oktober zeigte Schöpflin seine Vorfreude: "Ich habe meine Abfahrt (nach Mannheim) auf den 20. dieses Monats festgelegt; ankommen werde ich am folgenden Tag. Ich werde mir mit Vergnügen die Ausbeute der Reise nach Ingelheim ansehen und die anderen Dinge, die Sie mitgebracht haben von Ihrer excursion litteraire."

Am 30. November trug Lamey seinen Reisebericht auf der Akademie-Sitzung vor und sandte ihn an den Kurfürsten Karl-Theodor, und nachdem er ihn zurückerhalten hatte, an Schöpflin nach Straßburg.

Mit Datum vom 15. Dezember 1764 wies Schöpflin Lamey ergänzend auf ein Archiv - "Gewölbe" (voute) in "Ingelheim" hin, wo sich nach einem Hinweis des Barons von Wrede (Freiherr Ernst Wilhelm von Wrede, von 1750 bis 1756 kurpfälzischer Konferenzminister) Akten befänden, die dieser sich angesehen hätte, wenn er nicht abgewiesen (congedié) worden wäre. Vier Tage danach erwähnte Lamey deswegen nachträglich einen Besuch in Ober-Ingelheim, wo er mit Kremer auch das Archiv des Ingelheimer Grundes habe durchsehen wollen. 

Er berichtete:
"J'etois avec Mr. Kremer à la voute d'Oberingelheim, dont Mr. le Baron de Wreden Vous a parlé, mais nous n'y avons pa pú voir la partie des Archives, qui est commune aux sept communautés, qu'on appelle Ingelheimer Grund, et nous n'avons pas eu le temps de faire convoquer toutes ces Communautés, dont chacune en a une clef. C'est la, que doivent se trouver des pieces interessantes pour l'histoire. Cependant Mr. de Stengel, qui y a été, n' en fait pas si grand cas. J' en ai aussi parlé dans mon Itineraire, qui est encore entre les mains de l'Electeur."

Ich war mit Herrn Kremer in/an dem Gewölbe von Oberingelheim, von dem Freiherr von Wrede Ihnen erzählt hat, aber wir konnten den Teil der Archive nicht besichtigen, der der Gemeinschaft der sieben Orte gehört, die man den Ingelheimer Grund nennt, und wir haben nicht die Zeit gehabt, alle diese Gemeindeverwaltungen zusammenrufen zu lassen, von denen jede einen eigenen Schlüssel hat. Dort müssen sich auf jeden Fall interessante Dokumente zur Geschichte befinden. Andererseits hält Herr von Stengel, der dort gewesen ist, nicht so viel davon. Ich bin darauf auch in meinem Reisebericht zu sprechen gekommen, der noch in den Händen des Kurfürsten ist.

Saalwächter in BIG 9 (S. 36 ff.) zitierte aus mehreren Berichten des Hofgerichtsrates und Landschreibers von Oppenheim, Dawan, an die Regierung in Mannheim von 1750/51. Daraus geht hervor, dass es in der Ober-Ingelheimer Kirche zwei Archive gab, ein "Rittergewölb" mit den Gerichtsakten und den Adelsprivilegien in der Kapelle neben dem Turm, und ein "Ratsgewölb" mit den Akten des Ingelheimer Grundes. Letzteres lag im Erdgeschoss des Turmes und war durch die Schmiedeeisentür des 14. Jahrhunderts zu betreten.

Die Adelsprivilegien waren schon 1728 an das Archiv der Rheinischen Ritterschaft in Mainz abgegeben worden, und dort sind sie 1793 durch Beschuss der Reichstruppen verbrannt. Vor allem das Archiv des Ingelheimer Grundes scheint in einem schlimmen Zustand der Unordnung (in confuso) gewesen zu sein. Dawan erwähnt allerdings nur drei Schlüssel, die zum Öffnen gleichzeitig benötigt wurden, einen beim jeweiligen Oberschultheiß, einen beim Bürgermeister und einen beim Ältesten des Grundrates (senior senatus), also keineswegs die 7 oder 8 Schlüssel von allen Grundgemeinden, von denen Lamey berichtete. Bei einem Besuch dort erlebte Dawan sogar nur zwei Schlüssel.

Hat sich Lamey mit einer falschen Auskunft zu früh abwimmeln lassen, weil sich das Archiv trotz der Bemühungen Dawans und der Ortsverwaltung von Ober-Ingelheim immer noch in einem chaotischen Zustand (confusum chaos) befand? Oder wurde er von den schwierigen Notizen der Haderbücher, die er laut Reisebereichtskonzept zu sehen bekam, so abgeschreckt, dass er lieber mit dieser Ausrede darauf verzichtete? Einzelheiten zu den beiden Archivräumen bei Saalwächter, S. 39.

Im Brief vom 23. Februar 1765 verwies Lamey auf denjenigen Teil seines Reiseberichtes, der sich mit Ingelheim befasste, und fügte ihn bei. Er hatte ihn endlich vom Kurfürsten zurückbekommen, der an der Forschung seiner Akademie regen Anteil nahm. Anschließend berichtete er von dem Ergebnis eines Säulen-Vergleichs, nämlich der Säulen der Brunnenhalle im Heidelberger Schlosshof mit einer Säule (des eingemauerten Fragments am Eingang in den Hof zur Schaffnerei) in Ingelheim. Dass die Heidelberger Säulen aus der Ingelheimer Pfalz stammten, wusste man aus Sebastian Münsters Cosmographie.

Die Säulen, die sich im Heidelberger Schloss befinden, sind aus anderem Stein und haben eine andere Form. Herr Fladt junior hat sie untersucht und eine Beschreibung verfasst.

Herr Fladt junior ("le cadet") war Philipp Wilhelm Ludwig Fladt, ordentliches Mitglied der Akademie und reformierter Kirchenrat in Heidelberg. Von seiner wissenschaftlichen Qualifikation hielten Schöpflin und Lamey allerdings nicht viel (Voss 1979, S. 213). Wie aus seinem Aufsatz hervorgeht, kannte Schöpflin auch den Bericht von Ermoldus Nigellus über die vielen ("hundert") Ingelheimer Säulen, über die auch Sebastian Münster berichtet hatte. Dass er seit seiner Studienzeit in Basel die Cosmographie Sebastian Münsters kannte, ist selbstverständlich.

Am 22. Mai 1765 schrieb Schöpflin an Lamey, dass "Weiss" (junior), der Straßburger Kupferstecher, gerade an der Gravur der Kupferplatten mit Ingelheimer Abbildungen arbeite ("les planches d’Ingelheim").

Auch im Mainzer Jesuiten-Archiv wurde nach Fürsprache des Mannheimer Akademiedirektors von Stengel beim Mainzer Kurfürsten nachgeforscht. Im Reich war der Jesuitenorden noch nicht aufgehoben wie ab 1764 in Frankreich. Dabei ging es vor allem um eine Abschrift des Lorscher Codex, um dessen Edition sich Lamey bemühte. Im Brief vom 28. Juni 1765 berichtete dieser außerdem an Schöpflin: Die [Mainzer] Jesuiten besitzen ein Kopiar des alten Ingelheimer Stifts. Herr von Stengel wird sich auch darum kümmern, dass wir eine Kopie davon bekommen. – Ein Kopiar (oder Kapitular) enthielt Abschriften von Urkunden. Mit dem Stift ist wahrscheinlich das der Augustiner-Chorherren im Saal gemeint, das Karl IV. 1354 eingerichtet hat. Jedenfalls fügte Schöpflin seinem Aufsatz eine Abbildung der ruinösen Saalkirche bei, die er als die Kirche Karls IV. bezeichnete (siehe unten).

Im Brief vom 30. August 1765 an Lamey bot Schöpflin an, er – Schöpflin – könne bei der Herbst-Eröffnungssitzung der Akademie gern seinen Aufsatz zu Ingelheim vortragen, wenn es "keine interessanteren Abhandlungen" gebe. Damit brachte er seinen Schüler möglicherweise in Schwierigkeiten, denn der alte Professor dürfte nicht der einzige gewesen sein, der ein solches Angebot machte. Am 2. September 1765 konnte Lamey ihn aber beruhigen, dass er seine Abhandlung über Ingelheim trotz der Zeitknappheit auf der Herbstsitzung der Akademie vortragen könne.

Danach aber ging es um den Druck dieser Abhandlung für den ersten Band der Akademie-Veröffentlichungen. Im Brief vom 3. Oktober informierte er Lamey, dass er die vier Kupferplatten für den Aufsatz über Ingelheim nach Mannheim mitbrächte, wahrscheinlich für Probedrucke. Denn in großer Stückzahl (je 1000 Exemplare) gedruckt wurden die Abbildungen nicht in Mannheim, sondern im Frühjahr 1766 in Straßburg. Unter dem Datum des 7. Dezembers informierte er Lamey, dass ihm durch Herrn Reisseisen innerhalb von acht Tagen auch sein, Schöpflins, Aufsatz übermittelt werden würde.

Mitte Dezember 1765 stand der Inhalt des ersten Bandes der Akademieveröffenlichungen fest, in dem auch der Aufsatz Schöpflins über Ingelheim seinen Platz finden sollte. Der Band trug den Titel:

HISTORIA ET COMMENTATIONES ACADEMIAE ELECTORALIS SCIENTIARVM ET ELEGANTIORVM LITERARVM THEODORO - PALATINAE (Geschichte und Studien der Kurfürstlichen Akademie der Wissenschaften und der Literatur, der Theodor-Palatina).

Dabei waren die Begriffe "Historia et Commentationes" die wörtliche lateinische Übersetzung der französischen Veröffentlichungen der Pariser Akademie ("Histoires et Mémoires"), die als Vorbild gedient hatte.

Die Auswahl der Beiträge für diesen ersten Band war den Verantwortlichen sicherlich schwer gefallen, Schöpflins Arbeit über Ingelheim war dabei. Dieser lobte im Brief vom 28. Dezember 1765 den Inhalt als "bien formé", gut zusammengestellt. Zu Jahresbeginn, am 2. Januar 1766, schreibt Lamey, dass etwa am 20. Januar mit dem Druck in der Mannheimer Akademie-Druckerei begonnen werde, wenn die Almanache (Jahrbücher), die Vorrang hätten, fertig seien. Schöpflin solle ihm also den fertigen Aufsatz schicken, der offenbar noch nicht angekommen war. Er wurde schließlich am 2. Januar mit der Kutsche des Herrn Teutsch nach Mannheim gebracht (Brief Schöpflins vom 6. Januar).

Lamey bestätigt seinen Eingang am 14. Januar 1766: Ich habe pünktlich mit der Diligence aus Straßburg Eure Abhandlung über Ingelheim erhalten, die ihm (dem Ort) seinen alten Glanz in alle Zukunft verleihen wird. – Auch wenn Lamey mit dieser Formulierung seinem alten Lehrer sehr geschmeichelt hat – vergessen ist dessen Aufsatz in "Ingelheim" verdientermaßen bis heute nicht.

Schließlich konnte Lamey im Brief vom 28. August 1766 stolz mitteilen, dass der Druck des ersten Bandes der Akademie-"Memoires" nun vollendet worden sei: "Pendant votre Voyage l’impression de nos Premices academiques a eté entierement achevée." – Während Ihrer Reise ist der Druck unseres akademischen Erstlingswerkes vollendet worden.

Und damit war auch die erste wissenschaftliche Abhandlung zum Ingelheimer Kaiserpalast veröffentlicht:

 

Zu den vier Abbildungen

In dem folgenden Stich (vor Seite 301), der die Westansicht des Saales zeigt, versah Schöpflin (oder schon Lamey und Kremer?) die Gebäude und Mauern mit den römischen Ziffern I, II und III. Dabei waren für ihn die hohen Wehrmauerreste auf der rechten Seite, rechts und links des Eingangstores, die Ruinen des Ingelheimer Kaiser-Palastes (gekennzeichnet mit I = Palatii rudera); der Bolander-Turmstumpf verschwindet fast unter dem Schuttberg ganz rechts; der Kirchturm mit einem quer davor stehenden Kirchendach in der Mauerlücke, etwas weiter hinten, aber genau in der richtigen Perspektive, wurde als Turm der Stiftskirche bezeichnet (II = Ecclesia a Carolo IV. exstructa, dein restaurata - die Kirche, die von Karl IV. erbaut, später wieder hergestellt wurde), und das höhere Gebäude links mit Anbau nannte er das neue Schaffnerei-Haus (III = Domus nova quaestura).

Für seine Mitarbeiter bzw. für ihn diente also eindeutig nicht die ehemalige Aula regia als Stiftskirche, wie manchmal vermutet wurde, sondern die heutige Saalkirche. Die Aula regia, deren Apsismauer schon damals als Außenmauer eines nach Süden anschließenden Hauses gedient haben muss, ist Lamey anscheinend gar nicht aufgefallen, denn er erwähnte sie im Reisebericht nicht, obwohl ihre Apsismauer noch das einzige Gebäude (-Teil) war, das er aus karolingischer Zeit noch sehen konnte. Er suchte einen solchen Gebäudetyp wohl gar nicht, weil er ihn nicht mehr kannte. Was er suchte, waren Palastreste, Burgreste mit einem Palas. Der südliche Teil der Aula regia mit dieser Apsis diente zudem schon seit Jahrzehnten als jüdischer Friedhof. Erst der preußische Pionier-Offizier aus der Bundesfestung Mainz erkannte 1851 in der Apsisrundung den Rest einer "Basilika", also einer Königshalle.

Der abgebildete Kirchturm mit Haube und gedecktem Querschiff macht aber keineswegs den ruinösen Eindruck, den seine große Abbildung der Kirche von Osten her vermitteln soll (siehe unten).

Darunter wurden drei beschädigte römische Kapitelle abgebildet, die man damals dort noch sehen konnte; mit dem Namen „Weis“ unter der rechten Bildecke war der gleichnamige Sohn des berühmteren Kupferstechers Johann Martin Weis (1711-1751) gemeint, überliefert auch als Jean-Martin Weis, gestorben ca. 1795. Auch ihn nennt Schöpflin in seinen Briefen nur mit dem Familiennamen.

Für die Reste des kaiserlichen Palastes hielten Lamey und Schöpflin also ausschließlich den Bereich der hohen Wehrmauern, auch den Bereich ganz rechts, die stauferzeitliche Zuckerberg-Erweiterung südlich des Eingangstores, die heute nicht für einen Teil des (karolingischen) Palastgeländes gehalten wird.

Das Schaffnerei-Gebäude (III) noch einmal in vergrößerter Form:

Links davon sieht man wahrscheinlich den Rest des Nordwestturmes der Burg, den Engelhart 1621 „Hertzogs Thurn“ und der Grundriss (Foto des EBI) "Pulverthurn" nannte. Heute ist er ganz verschwunden, seine Stelle wurde mit Häusern des späten 19. Jahrhunderts überbaut (Karlstraße).

Wenn man diese Abbildung der Schaffnerei mit einem Foto aus dem 19. Jh. vergleicht (unten, aus BIG 14, S. 71), dann sieht man, dass der Kupferstich (in der Sicht von Westen!) zwar einen Anbau auf der anderen Seite hat, ansonsten aber dem Foto (in der Sicht von Osten!) recht nahe kommt. Das Gebäude könnte in der Folgzeit nach Norden verlängert worden sein, also mit dem Anbau aus Schöpflins Zeit.

Die Kirche links auf dem Foto des 19. Jahrhunderts ist die Remigiuskirche, nicht die Saalkirche.

 

Den Wehrmauerbereich bis zum Rheingässer Tor ("prope Portam"), dem heutigen Eingang in den Saal, hat Schöpflin noch einmal vergrößert als "Ruinen des Ingelheimer Palastes nahe dem Tor" stechen lassen:

Man erkennt darauf die vielfach umgebaute, aber verfallene Wehrmauerarchitektur mit Fenstern (Schießscharten?) und einem verfallenen Erker und im Inneren zwei angebaute Häuser. Steinbögen in der Mauer dienten durch ihre Höhlungen zur Reduzierung des Mauergewichtes; sie sind auch heute noch an verschiedenen Stellen zu finden.

 

Zur Kirche ("Ingelhemiana Ecclesia")

Der absolut ruinöse Zustand der von Lamey oder Schöpflin sogenannten "Ingelheimer Kirche", wie er auf der folgenden Abbildung dargestellt ist, kann nicht mehr der Zustand von 1764 gewesen sein, fast sechs Jahrzehnte, nachdem die Ruine bei der Pfälzer Kirchenteilung von 1705/7 an die Nieder-Ingelheimer Reformierten gefallen war. Andreas Saalwächter berichtet in BIG 9 (1958), S. 118, dass der Wiederaufbau der (verkürzten) Saalkirche 1707 begonnen wurde, als Peter Franzenus reformierter Pfarrer in Nieder-Ingelheim war. 1709 beginnen die Einträge im Kirchenbuch.

Wenn Schöpflin tatsächlich die Abbildung verwendete, über die Lamey nach seiner Rückkehr berichtete (Nr. 27 a), dann muss das eine fiktive Darstellung sein, die Lamey nach der Erinnerung Einheimischer hat anfertigen lassen, weil er eigentlich den ruinösen Zustand der Pfalzkapelle Karls IV. darstellen wollte, nicht die zeitgenössische Kirche der Reformierten. Dazu wurde die Ostansicht der wieder aufgebauten Kirche mit dunklen Fenstern eines geschlossenen Raumes, nicht mit leeren Fensterhöhlen, benutzt, die Dächer der Türme, des Chores und des Querschiffes jedoch wurden weggelassen.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass weder Lamey noch Schöpflin die Kirche St. Remigius in ihre Betrachtungen einbezogen, obwohl sie doch die Karls-Biographie Einhards kannten. Dies ist auch ein Beleg dafür, dass sie nur Mauerreste im Saal für den Kaiserpalast hielten und keine Ahnung mehr von der bipolaren ländlichen Pfalz der Karolingerzeit hatten.

Eine "Ichnographie" war ein Grundriss.

 

Aus dem Inneren der Kirche ließ Schöpflin ein fünf Fuß langes Relief-Portrait drucken, das seiner ausführlich begründeten Meinung nach ein Epitaph Hildegards, einer Ehefrau Karls des Großen, darstellt. Heutige Kunsthistoriker halten es für eine spätgotische Darstellung des als Heiligen verehrten (siehe den Heiligenschein!) Karls des Großen, der unter der Regierung Friedrichs I. Barbarossa am Weihnachtstag 1165 in Aachen heiliggesprochen wurde. Es lag damals nach Lameys Reiseberichtskonzept vor der Kanzel im Boden der Kirche, während es heute an der Ostwand des südlichen Seitenschiffes aufgehängt ist.

 

Schöpflins Bedeutung für die Erforschung der Ingelheimer Pfalz

Schöpflins ausführlicher lateinischer Aufsatz, der durch die Aufnahme in den ersten Band der Mannheimer Akademie in der internationalen Gelehrtenrepublik weite Verbreitung fand, hat die Aufmerksamkeit wieder auf die großartige Vergangenheit eines "Kaiserpalastes" in Ingelheim gerichtet, ja, er hat diesen Namen, den man vorher in Ingelheim selbst nie benutzte, von außen auf die Reste des Ingelheimer Saales übertragen. Die heutige Bezeichnung "Kaiserpfalz" ist wohl daraus entstanden.

Schöpflins Vorstellung hat sich in der gelehrten Welt und in Ingelheim durchgesetzt, sodass man die Pfalzreste im 19. und 20. Jahrhundert dann auch archäologisch zu suchen begann. Was man fand und was man heute als Modell oder als "archäologische Zone" im Saal besichtigen kann, geht freilich weit über das Bild der Pfalz hinaus, das Schöpflin sich noch machen konnte.

 

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Gs, erstmals: 20.02.15; Stand: 21.01.24