Autor: Hartmut Geißler
nach: Peter-Hugo Martin: Eine Goldmünze Karls des Großen,
im Ausstellungskatalog in BIG 43 (1998), S. 37-47
erneut gedruckt und ergänzt in BIG 54 (2013), S. 33-44
sowie Martin: Eine Goldmünze Karls des Großen, in: In: Archäologie und Bauforschung in der Pfalz Ingelheim am Rhein. Band 1: Beiträge zur Ingelheimer Pfalz und ihrer Peripherie. 2001-2020. Petersberg 2021, S. 228-232
Der bisher spektakulärste Fund der neuen Grabungskampagne in und um das Gelände der Ingelheimer Pfalz war der Fund einer Goldmünze (oder Medaille) am 19.08.1996 auf einem Gelände zwischen Palatium und Remigiuskirche im "Kiliansgarten".
Dort konnte bzw. sollte eine Rettungsgrabung durchgeführt werden, bevor eine neue Straße, die wegen der vermuteten Osterfestprozession"Ottonenstraße" genannt wurde, und neue Reihenhäuser gebaut wurden. Dabei fand man mehrere Reste von Grubenhäusern einer karolingisch-ottonischen Siedlung.
In der Planierlage unter den Resten eines dieser Grubenhäuser wurde als Einzelstück diese Münze gefunden, die anscheinend nicht absichtlich vergraben worden war, sondern verloren wurde. In ihrer Umgebung fanden sich Hinweise auf Webstühle, die in den Grubenhäusern gestanden haben könnten (Spinnwirtel). Der Fundort liegt also in keiner reichen Umgebung, sondern in einer einfachen Handwerkerumgebung, nahe am alten Ortskern von Nieder-Ingelheim und damit nahe am dort vermuteten Königshof.
Im Ausstellungskatalog (BIG 43, 1998) S. 37 ff. wird die Erstveröffentlichung des Fundes (im Numismatischen Nachrichtenblatt 46, 1997, 351-355) von Peter-Hugo Martin nachgedruckt, dem Oberkonservator und Leiter des Münzkabinetts des Badischen Landesmuseums Karlsruhe; er hat die Münze auch am 26. November 1996 im Ingelheimer Rathaus der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieser Aufsatz ist vom Verfasser um einen Schlussabsatz ergänzt worden und in der Neubearbeitung in BIG 54, 2013, abgedruckt.
Auch hier schließt Martin mit vielen offenen Fragen (siehe unten) und verweist am Schluss auf die Beurteilung von Bernd Kluge, der den Ingelheimer Solidus für "eine posthume Prägung als Schmuckmünze/Medaillon unter Ludwig dem Frommen" hält.
Gewicht: 4,18 g, Durchmesser 19,5 mm, Stempelstellung 1 h, Goldgehalt nach spezifischem Gewicht: 92%, Erhaltungszustand ausgezeichnet, keine Gebrauchsspuren
Auf der Vorderseite ist eine Männerbüste nach rechts dargestellt mit Paludamentum (Feldherrenmantel, sieht hier eher aus wie eine Halskrause) und Lorbeerkranz, eine Gestaltung, wie man sie von römischen Kaiser-Münzen seit der Prinzipatszeit und auch von anderen Münzen Karls selbst kennt. Auf der Rückseite ist ein Tor abgebildet (s.u.).
Legende Vorderseite:
"Lesen" lässt sich das nur teilweise. Unter Heranziehung ähnlicher Legenden auf anderen karolingischen Münzen meint Martin, dass Folgendes gemeint sei:
D(ominus) N(oster) KARLVS IMP(erator) AVG(ustus) REX F(rancorum) ET L(angobardorum).
Aber der erste Buchstabe sieht eher wie ein P aus, nicht wie ein D, der zweite, der ein N sein müsste, ist ein I, der dritte müsste ein K sein, ist aber ein H. Auch das vermutete IMP wirkt verunglückt, und bei AVG ist die Reihenfolge der beiden ersten Buchstaben vertauscht, also zuerst das V, dann ein A (VAG). Das letzte Zeichen schließlich ist eine Art rechteckiges Tor mit Füßchen nach links, aber kein ET und L. Von Martin wurde auch erwogen, die beiden letzten Zeichen als FEL = Felicissimus = „der Glücklichste“ zu lesen.
Insgesamt macht diese Beschriftung den Eindruck, dass sie von jemandem in den Prägestempel geschnitten wurde, der selbst nicht (richtig) lesen und schreiben konnte und lediglich die Legende anderer Münzen irgendwie nachgeahmt hat. Da viele Karlsmünzen nur die Bezeichnung "REX FR"(ancorum) enthalten, könnte man in dem letzten Zeichen vielleicht auch nur ein etwas verunglücktes "R" lesen, ähnlich dem "R" vor "LUS". Die Benennung als "REX F(rancorum) ET L(angobardorum)" findet sich auf zwei Bildnisdenaren, deren Prägeort in Pavia, Mailand oder Rom vermutet wird.
Jedenfalls steht die Gestaltung dieser Vorderseite in krassem Gegensatz zur gelungenen Gestaltung der Rückseite.
Legende Rückseite:
Diese ist viel präziser und stilvoll geschnitten und lässt sich sofort lesen als: .A.R.E.L.A.T.O. (= die bekannte Prägestelle Arles in Südfrankreich).
Arelatum besaß schon in der römischen Antike eine wichtige Prägestätte, die in karolingischer Zeit zu den bedeutendsten gehörte. Das (Stadt-?) Tor der Rückseite erscheint auch auf anderen karolingischen Münzen aus Arles. Beide Umschriften enthalten ein Kreuz vor bzw. nach der Umschrift als Trennzeichen zwischen dem ersten und letzten Buchstaben, wie es auch bei vielen Umschriften anderer Münzen jener Zeit benutzt wurde. Vorn steht es über dem Kopf des Kaisers (wie auf anderen Portraitmünzen Karls auch) und auch auf der Rückseite über dem Tor, während es hingegen bei anderen Münzen aus Arles unter dem Tor steht.
Als Vorbild für die Gestaltung denkt Martin an Kupfermünzen aus konstantinischer Zeit, was sich mit der allgemeinen Beobachtung trifft, dass als Vorbild für die Franken die römische Kaiserzeit mit dem Kaiser Konstantin (Kaiser 306-337) begann, nicht etwa mit der heute als klassisch angesehenen Epoche, die mit Augustus (1. Jh. vor - 1. Jh. nach Chr.) begann, weil man Konstantin als den ersten christlichen Kaiser wertete.
Die wichtigsten Prägestellen aus der Karolingerzeit stellte McKitterick (S. 156) zusammen:
"Soweit aus den erhaltenen Münzen (Hort- und Einzelfunden) zu erschließen, befanden sich die Prägestätten hauptsächlich in civitates und Handelszentren zwischen Loire und Rhein und weniger in den Pfalzen. Prägestätten wurden identifiziert in
- Chartres (Klasse 1),
- in verschiedenen Orten der Francia, z. B. Dorestad, Limoges, Lyon, Mainz, Sens und Melle, sowie in Italien nach 774 in Mailand, Treviso und Lucca … (Klasse 2);
- in Mailand, Pavia, Treviso, Lucca, Pisa, Ravenna (unter Verwendung des Monogramms Karls des Großen in Griechisch) (Klasse 3)
- sowie in Arles, Rouen, Trier, Dorestad, Ouentovic, Melle (Klasse-4-Bildnismünzen).
Die im Namen Karls des Großen geschlagenen Tremissen der Jahre 773-781, die denen des Desiderius ähneln, entstanden in Mailand, Bergamo, Pavia, Castel Seprio, Lucca, Pisa und Chur.
- Goldsolidi sind in der Francia aus Prägestätten in Uzes, Aurodis und Dorestad sowie in Italien aus Mailand, Pavia, Trevisound Rom erhalten.
Ausnahmsweise (denn die Unterkönige verfügten nicht über das Prägerecht) wurden 781 in Narbonne, Bourges, Saint-Etienne de Bourges, Clermont und Limoges einige Klasse-2-Münzen (771-793/794) im Namen Ludwigs, des Unterkönigs von Aquitanien, geprägt, wohl zur Feier seines Amtsantritts."
Während es viele karolingische Münzen ohne die Abbildung Karls gibt, sondern nur mit einem Kreuz, ist die Gruppe der silbernen Bildnismünzen Karls mit weltweit etwa 30 Exemplaren relativ klein. Man vermutet den Beginn ihrer Prägung mit dem Jahr 812, der Akzeptierung Karls als Mitkaiser durch die Regierung in Konstantinopel (Martin), oder 813, der Ernennung Ludwigs zum Mitkaiser.
Der Ingelheimer Solidus ist die einzige Goldmünze mit seinem Bild.
Rätselhaft und verwirrend ist in jedem Fall der gewaltige Qualitätsunterschied zwischen der Vorderseite, die grob und ungeschickt erscheint (Martin: „stark verwildert“), und der Rückseite (Martin: „fast elegant“).
Man vergleiche die Solidus-Vorderseite (rechts) mit der Vorderseite eines bekannten Silberdenars (links), geprägt wahrscheinlich zwischen 812 und 814 in Mainz (M = Mainz?), wo für die karolingische Zeit eine relativ kontinuierliche Münztätigkeit nachgewiesen wurde:
Warum sollte eine so „stark verwilderte“ Portraitmünze ausgerechnet in der traditionsreichen Münzstätte Arles zur etwa gleichen Zeit (also noch zu Lebzeiten Karls) hergestellt worden sein? Wenn eine solche Münze wirklich den Anspruch Karls auf das erneuerte römische Kaisertum propagandistisch in die Welt hätte hinaustragen sollen, dann hätte man in Arabien oder Byzanz seine (Vor-) Urteile über den barbarischen Germanen-"Kaiser" in Franken durch die Gestaltung der Vorderseite eher bestätigt gesehen, deren Münzmeister noch nicht einmal ihr Latein richtig zu beherrschen schienen.
Martin führt in seiner Veröffentlichung 2021 allerdings zwei Silberdenare gleichen Typs, gleichfalls aus Arles an (Martin 2021, S. [244], Abb. VII.7 und VII.8).
Ein Bildnisdenar Ludwigs des Frommen dagegen aus Toulouse, gleichfalls mit einem Stadttor auf der Rückseite, zeigt einen ähnlichen Büstenstil wie der Ingelheimer Solidus. Und zwei Goldmedaillons mit einem Karlsbildnis (nach links) und mit einer völlig entstellten Umschrift auf der Vorderseite stammen aus dem friesischen Dorestad, wie man den ordentlichen Buchstaben der Rückseite entnehmen kann, vielleicht aus der Zeit um 830/850.
Deswegen ist der Ingelheimer Solidus vielleicht erst in der Zeit Ludwigs in Mainz entstanden, als viele Umschriften und Herrscherbilder ähnlich "verwildert" waren, und zwar gar nicht als Zahlungsmittel, sondern als Gedächtnismedaillon. Dann wäre es wohl auch mehr auf den Goldgehalt als auf die Schönheit der Gestaltung angekommen. Zur Erklärung des Qualitätsunterschieds von Vorder- und Rückseite könnte man sich z. B. vorstellen, dass aus irgendwelchen Gründen nur ein alter Unterstempel aus Arles in Mainz vorhanden war und ein Oberstempel neu geschnitten werden musste.
Am erstaunlichsten ist die Tatsache, dass es überhaupt eine Goldmünze ist (mit 91% Goldgehalt), während in Karls Regierungszeit 792/94 gerade eine Münzreform mit einheitlichem Silberstandard angeordnet worden war. Im Geld-Umlauf scheint sie - nach dem guten Erhaltungszustand zu urteilen - nicht gewesen zu sein.
Martin 2013 vergleicht sie mit anderen karolingischen Münzen, kann aber viele Fragen nicht beantworten, die der Ingelheimer Solidus-Fund aufgeworfen hat; sein damaliger Beitrag schließt mit den Worten:
„Der Solidus aus Ingelheim wirft neue Probleme auf:
- Wie ist die Diskrepanz zwischen der stark verwilderten Vorderseite und der fast elegant geschnittenen Rückseite zu erklären?
- Reicht es, nur die Tätigkeit zweier verschieden befähigter Stempelschneider anzunehmen?
- Handelt es sich vielleicht um eine postume Prägung, lange nach dem Tode Karls?
- Wie erklärt sich dann aber die große Nähe der Rückseite zu der des Lyoner Denars? Gehen wir von einer zeitgenössischen Prägung aus, wäre ihr Anlaß zu klären.
- Warum weicht Karl der Große hier von der von ihm selbst in verschiedenen Gesetzen gefestigten monometallischen Silberprägung ab?
- Warum gerade in Arles, wo er sich zu dieser Zeit gar nicht aufgehalten hat? Aus den Reichsannalen wissen wir, daß er 813 Bischofsversammlungen in Mainz, Reims, Tour, Chalon und Arles abhalten ließ.
- Steht diese Prägung damit im Zusammenhang und können wir eines Tages gar mit dem Auftauchen von Goldstücken aus den anderen vier Städten rechnen? Wir erinnern uns auch, daß der Berliner Denar dieses Typs Spuren von Vergoldung trägt.
- Ist das Zufall oder ist da ein Zusammenhang mit unserem Goldstück zu sehen?
Der Solidus aus Ingelheim erweitert unsere Vorstellung von der Münzprägung Kaiser Karls beträchtlich. Es ist zu hoffen, daß die mit ihm aufgetauchten Fragen bald beantwortet werden können.“ (S. 47 bzw. S. 43/44)
Auch nachdem die Münze schon mehrfach an mehreren europäischen Orten ausgestellt war, gibt es keine Antworten auf diese Fragen Martins (Stand: 25.12.2020). Sie oder ihre Nachbildung (bei Abwesenheit) wird in einer sicheren Vitrine des Museums und mit einer anschaulichen Computer-Projektion präsentiert.
Anlässlich der Präsentation der zurückgekehrten Münze am 11.09.2005 im Museum wurde das Münzbild auch zu einer bunten Collage verwendet; oben rechts ein Bild aus der Videopräsentation des Museums, in der der Solidus dargestellt und ausführlich erklärt wird. Links: ein grimmiger Franke, der vor einem angedeuteten Grubenhaus Wache hält...
Auch der Carolus-Wein, der von mehreren Winzern jährlich als eine Rotburgunder-Cuvée hergestellt wird, trägt als Deckel der Korkenkapsel das Bild der Münze.
Gs, erstmals: 01.08.05; Stand: 22.12.21