Autor: Hartmut Geißler
Siehe auch: Geißler Schriftquellen 3.1
Bei den Reichsteilungen nach Ludwigs Tod 840 entstanden ein stark romanisch geprägtes Westfrankenreich, aus dem das heutige „Frankreich“ hervorging, ein überwiegend germanisch geprägtes Ostfrankenreich, aus dem „Deutschland“ entstand, und ein Mittelreich ("Lothringen") mit wechselnden Zuschnitten, das immer wieder zwischen Ost und West umstritten waren. Es waren turbulente Zeiten, in denen auch die Quellenlage deutlich schlechter wurde. Für lange Zeit gab es keine solch hochstehenden Annalen mehr wie die Annales regni Francorum.
Ingelheim fiel 843 als Teil des Wormsgaues dauerhaft an das Ostreich. Es wurde somit ein Teil des Reichsteiles, in dem überwiegend die Volkssprache ("thiudisca lingua") gesprochen wurde, und sein erster König Ludwig II. ("der Deutsche") regierte von 843 bis 876. Nur von 1797 bis 1814 unter Napoleon gehörte das linke Rheinufer mit Ingelheim noch einmal kurz zum ehemals westfränkischen "Frankreich", und man ließ damals aus propagandistischen Gründen den alten Namen der "Franken" hier wieder aufleben (Napoleon).
Die Nachfahren Ludwigs sind insgesamt höchstens sieben Mal in Ingelheim nachweisbar, und zwar überwiegend durch Urkunden, deren Echtheit bisweilen umstritten ist, und keinmal mehr mit Großveranstaltungen wie Reichsversammlungen oder großen Festen. In Chroniken jener Jahrzehnte wird Ingelheim gar nicht mehr erwähnt. Auch eine in dieser Zeit (nach 883) entstandene anekdotenhafte Beschreibung Karls des Großen und seiner Nachfahren von Notker "Balbulus" im Kloster St. Gallen erwähnt (in ihrem erhaltenen Teil) die Ingelheimer Pfalz nicht mehr.
a) Lothar, der erstgeborene Sohn Ludwigs, war schon von ab 817 und nochmals ab 830 als Mitkaiser von seinem Vater eingesetzt und unter Ludwig auch König in Italien, bzw. ab 840 alleiniger Kaiser und 843 - 855 König von "Lotharingen". Er war maßgeblich an den Aufständen gegen seinen Vater beteiligt gewesen. Sein Reich umfasste nach der Reichsteilung von Verdun (843) Mittel- und Norditalien, Burgund, Belgien und Friesland mit den Kaiserstädten Rom und Aachen.
Als sein Vater 840 starb, kam Lothar vorsichtig aus Italien nach Worms, um seine Nachfolge anzutreten. Man nimmt zwar vielfach an, dass im August 840 unter seiner Leitung (?) eine Bischofssynode in Ingelheim getagt habe, bei der der von Ludwig abgesetzten Bischof Ebo (siehe Wikingerkönig Heriold 826) "in Engilenheim palatio publico" wieder in seinem Bistum Reims eingesetzt wurde. Bei genauer Betrachtung spricht aber viel dafür, dass die angebliche Abschrift eines Kaiser-Ediktes aus Ingelheim (mit einem unmöglichen Juni-Datum) eine Fälschung Ebos ist. Eine Bischofssynode, die lange vorbereitet werden musste und zu der die Bischöfe sogar aus Italien angereist sein sollen, ist zu dieser Zeit voller diplomatisch-militärischen Spannungen nicht vorstellbar.
Es ist das einzige Mal, dass ein Schriftstück einen Aufenthalt Lothars in Ingelheim nahelegt. Er starb am 29. September 855 im Kloster Prüm, wo er auch bestattet wurde.
b) Ludwig II., "der Deutsche" war ein jüngerer Bruder Lothars. Sein Vater Ludwig hatte ihn zum König in Bayern eingesetzt. Auch er war an den Aufständen gegen seinen Vater und den vielfältigen Streitigkeiten um sein Erbe beteiligt. König des ostfränkischen Reiches war er von 843 bis 876. Er benutzte fast jedes Jahr die Pfalz in Frankfurt, wo er elf Reichsversammlungen abhielt und auch starb.
Mit Ingelheim wird er auch nur selten (zwei bzw. drei Mal) in Verbindung gebracht: am 18. Mai 876 hatte er den Vorsitz bei einer großen Schlichtungsversammlung, die den Streit zwischen dem Würzburger Bischof und dem Mainzer Erzbischof über die Abgaben aus Thüringen entscheiden sollte, und am 1. Juli desselben Jahres durch eine Urkunde für das Kloster Herford ("actum Engilahem palatio regio"), sowie am 19. Juli 876 (Urkunde für Angilberga während einer Gerichtsversammlung: "in palatio Ingilunheim"). Die Urkunde vom 18. Mai 876 für das Kloster Fulda ("actum in palatio Ingilunhem") wird hingegen als Fälschung angesehen (MGH DD LD/Kn/LJ S. 267). Demgegenüber bevorzugte Ludwig Versammlungen in Worms, wo acht Besuche von ihm zwischen 857 und 868 angenommen werden und wo er fünf große Reichsversammlungen abhielt. Von seinen Söhnen Ludwig III. und Karl III. sind keine sicheren Aufenthalte in Ingelheim bekannt.
c) Arnolf von Kärnten" (ostfränkischer König 878 - 899) hat dreimal Urkunden ausstellen lassen, die sich mit Ingelheim befassten: am 21. November 889 in Frankfurt (Urkunde für das Bistum Würzburg mit der Verlängerung der Einkünfte aus verschiedenen Kirchen, auch aus Ingelheim, St. Remigius, deren Lage bezeichnet wurde mit "in villa Ingulunheim"); am 11. Februar 893 (eine Schenkung von 20 Orten an das Trierer Kloster St. Maximin), in deren Eschatokoll der Ausstellungsort Ingelheim so genannt wurde: "actum Ingilinheim curte regali"); und am 21. Juni 897 (?) eine Anweisung an den sächsischen Adel, die Vasallen des Klosters Corvey nicht über Gebühr zum Kriegsdienst einzuberufen (Eschatokoll aus Ingelheim: "ad Ingulunheim"). In seiner Zeit beginnt eine sprachliche Entwicklung, die etwa ein Jahrhundert dauerte und bei der das Wort palatium allmählich aus den Schlussformeln der Urkunden, den Eschatokollen, verschwindet und entweder durch Villa oder Curtis ersetzt wird oder - bei Arnolf schon zu 83% - der reine Ortsname ausreicht.
d) Ludwig IV., "das Kind" (geb. 893, ostfränkischer König 900 - 911) auch nur zweimal: 904 und 909, 904 mit drei Urkunden, bei denen es um Kirchenbesitz ging ("actum Ingilinheim"), 909 ("actum Ingeleneheim, Ingilinheim") mit zwei Urkunden zu ähnlichen Gegenständen. Weber (S. 66) sieht in dem Aufenthalt von 904 eine "Reichsversammlung" in Ingelheim, wohl wegen der Formulierung "populi frequentia" und der Aufzählung vieler hochrangiger Zeugen in der Lorscher Urkunde vom 14. Juni 904.
Classen (S. 103) vermutete zum Rückgang der Ingelheimer Königsaufenthalte in der späten Karolingerzeit:
"Wir können nicht mit Sicherheit sagen, welche Gründe die Könige bewogen, Ingelheim so in den Hintergrund treten zu lassen. Die neuen Reichsgrenzen allein können der Anlass nicht gewesen sein, denn Ludwig der Deutsche wie auch seine Nachfolger haben immer wieder versucht, ihr Reich im Westen auf Kosten der Brüder oder Vettern zu vergrößern, und haben dabei oft genug den Rhein überschritten. Seit dem Verduner Vertrag kamen die Herrscher der karolingischen Teilreiche bis um 900 an die 90mal zusammen; aber die Mehrzahl dieser Gipfeltreffen fand in lothringischen Pfalzen statt, vor allem an der Grenze, etwa in Koblenz oder auf einer Rheininsel bei Andernach; den seltenen Zusammenkünften im Ostreich dienten die Pfalzen von Frankfurt, Mainz und - unter Arnolf - Worms; niemals kam man nach Ingelheim."
Gs, erstmals: 10.10.15; Stand: 03.01.24