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Ingelheimer Bruderschaften

 

Autor: Andreas Saalwächter, Rheinhessischer Volksbote (Gau-Algesheim), 19. Mai 1909 (= BIG 9, S. 97-98)
und Harmut Geißler

 

"Die Lust am Genossenschaftsleben ließ im Mittelalter eine Reihe von Vereinigungen entstehen, die in den Pfarrkirchen ihren geistigen Mittelpunkt hatten. Man nannte sie Bruderschaften. Mit Zustimmung der Kirche gegründet und ihrer Aufsicht unterworfen, war Name und Zweck ein sehr verschiedener. Wie sich Personen beiderlei Geschlechts aus der kirchlichen Gemeinde zur Verehrung eines Heiligen, des Leichnams Christi, zur Schmückung von Altären und Kreuzen, zur Beherbergung und Verpflegung armer und kranker Fremden zusammenschlossen, so konnten auch bereits vorhandene weltliche Körperschaften, wie die Zünfte der Schneider, Tuchscherer, Schiffleute, Schuhmacher, Seiler, Weber usw. Bruderschaften bilden. Ihre Mitglieder versammelten sich in den Dorfkirchen oder in eigenen Kapellen, wo ihnen an bestimmten Tagen des Jahres im Beisein aller Brüder Messe zu lesen war.

Für die Zwecke der Bruderschaft wurden laufende Abgaben entrichtet. Gewählte Brudermeister verwalteten das Vermögen, das durch Legate und Geschenke aller Art anwuchs. Die Verfassung der Bruderschaft, die Pflichten und Rechte ihrer Mitglieder regelte eine Satzung, die dem Kirchenpatron und dem Bischof der Diözese zur Bestätigung vorgelegt wurde.

Die Prüfung der inneren Zustände in den Gemeinden des Ingelheimer Grundes zeigt für das Mittelalter drei Liebfrauenbruderschaften in beiden Ingelheim und Groß-Winternheim, zwei Bruderschaften zu Ehren der heiligen Anna zu Ober-Ingelheim und Groß-Winternheim, die Bruderschaft der Schröderzunft zu Ober-Ingelheim und eine Elendsbruderschaft zu Groß-Winternheim.

Vielleicht darf auch die adelige Schuljunkerschaft zu Ober-Ingelheim nach dem Beispiel der adligen Turniergesellschaft zum Steinbock zu Mainz als Bruderschaft betrachtet werden.

Die ältesten Vereinigungen dieser Art sind die Liebfrauenbruderschaften in beiden Ingelheim. Zu Nieder-Ingelheim 1422, zu Ober-Ingelheim 1427 erstmalig nachweisbar, bestanden sie noch in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts. Beide Bruderschaften gelangten zu Vermögen, das ein Brudermeister zu verwalten und in besonderen „gultsbüchern und registern“ nachzuweisen hatte. Die beiden nach Sankt Anna genannten Bruderschaften zu Ober-Ingelheim und Groß-Winternheim sind anscheinend Schöpfungen des 16. Jahrhunderts, die erst 1516 und 1521 erwähnt werden.

Für die Bruderschaft der Schröderzunft spricht das Vorhandensein einer eigenen als Schröderkirche bezeichneten Kapelle in der Hammergasse zu Ober-Ingelheim.

Die Existenz einer Elendsbruderschaft zu Groß-Winternheim beweist eine Stiftung zu der dortigen „elenden kertzen“.

Von den Satzungen aller dieser Bruderschaften und ihren Gebräuchen ist nur weniges bekannt. Wir wissen nur soviel, daß die Aufnahme eines Mitgliedes in die Liebfrauenbruderschaft zu Ober-Ingelheim besonders feierlich war. Der Aufzunehmende wurde „mit der kertzen, die zu der bruderschafft gehören“ in seiner Wohnung abgeholt und im feierlichen Zuge nach der Pfarrkirche geleitet, in der die Bruderschaft ihren Sitz hatte. Beim Ableben eines Mitgliedes mußte nach alter Sitte ein Gulden oder das beste Kleid des Nachlasses gestiftet werden. Ähnlich wird es in den Liebfrauenbruderschaften der Nachbarorte gehalten worden sein.

Die Liebfrauenbruderschaft zu Nieder-Ingelheim erlangte 1502 die Bestätigung des Erzbischofs Berthold von Mainz und des dortigen St. Stephanstiftes, das als Zehntherrin an der alten Pfarrkirche zu Nieder-Ingelheim - der heutigen katholischen Kirche - bau- und unterhaltungspflichtig war. Beide Urkunden wurden 1506 bei Einklagung von Einkünften dieser Brüderschaft zum Nachweise der Rechtsfähigkeit dem Gericht vorgezeigt. Dem Bestätigungsbriefe des Erzbischofs von Mainz war eine Reise Nieder-Ingelheimer Brüder nach Aschaffenburg, der Residenz des Bischofs, vorangegangen, wobei 9 Albus verzehrt wurden.

So gern wir über die Organisation und die Ziele der Ingelheimer Bruderschaften mehr wissen möchten, müssen wir uns bei dem Mangel an Nachrichten bescheiden und mit der Feststellung der Existenz der bis jetzt unbekannt gewesenen Korporationen einstweilen begnügen."
 

Von einer Schützenbruderschaft in Ober-Ingelheim ist leider nichts überliefert, aber es muss sie wie auch in anderen Orten mit Wehrmauern gegeben haben. Aus dem benachbarten Bingen wird überliefert, dass am 28. Oktober 1471 ein Wettschießen der „Societas Saggitariorum Bingium“, der Binger Bogenschützengilde, durchgeführt wurde, zu dem auch auswärtige Schützen eingeladen waren, sogar aus Frankfurt (AZ Bingen, 02.06.21) und vielleicht auch aus Ober-Ingelheim. Auch im Binger Ortsteil Büdesheim gab es einen Schießgraben.

Solche Schützenvereine dürften seit dem 13. Jahrhundert überall entstanden sein, wo es befestigte Orte gab. Sie dienten der Verteidigung, aber sie demonstrierten auch das wachsende Selbstbewusstsein der Bürger in den überall aufblühenden Städten. Man brauchte dafür ein geeignetes Gelände, z. B. einen Schießgraben zum Üben, und für Geselligkeiten ein "Fest-, Tanz und Schießhaus" daneben. Beides gab es hinter dem heutigen Haus Burggarten, den Schießgraben wohl im Wehrgraben neben dem ostwestlichen Mauerstück der Kirchenburg (wo auf der Innenseite das heutige Gemeindehaus steht), und ein Vereinshaus an der Ringgasse, wo sie in den kleinen Dreiecksplatz mündet.

Die Blütezeit solcher Schützengilden waren die Jahrhunderte, als man Wehrmauern und Türme zur Verteidigung brauchte, also zumindest vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Denn das Schießen mit der Armbrust und später mit den aufkommenden Schusswaffen musste ja für den Ernstfall, der in Ober-Ingelheim anscheinend nie eintrat, geübt werden.

In Nieder-Ingelheim gab es um das Dorf bei der Remigiuskirche bekanntlich keine Wehrmauern, also auch keine Möglichkeit bzw. Notwendigkeit für die Einwohner, sich ggf. von Türmen und Mauern herab zu verteidigen. Und der (seit dem 12. Jh.) burgähnliche Saal war Militärgelände, zuerst des Reiches und nach der Verpfändung der Kurpfalz, für das wohl auch keine Schützengilde gebraucht wurde.

Dass es in Ober-Ingelheim einen Schützenpfad gibt, der aus dem Ort hinaus in freie Gelände führt (in Richtung auf das heutige "Schützenhaus", das in der Ober-Ingelheimer Gemarkung steht), deutet darauf hin, dass man wohl aus Sicherheitsgründen irgendwann mit den weiterreichenden Schusswaffen aus dem eng begrenzten Gelände des Schießgrabens ins Freie ausweichen musste, um niemanden zu gefährden. Belege dafür sind im Ingelheim Stadtarchiv leider nicht zu finden. (Gs)

 

Gs, erstmals: 25.06.16; Stand: 02.06.21