Autor: Hartmut Geißler
Inhalt:
1. Karlsverehrung in der Politik und durch das einfache Volk
2. Die Aachener Heiligtumsfahrt vom Mittelalter bis heute
3. Wallfahrer in Ingelheim
An der Person und am Lebenswerk Karls "des Großen" entzündete sich immer wieder eine besondere Hochschätzung und Verehrung, die bis zu einer Heiligsprechung im Jahre 1165 (s. u.) führte.
Seine Faszination strahlt ungebrochen bis heute fort: In Aachen wird seit 1950 alljährlich der "Karlspreis" für Verdienste um die Einheit Europas verliehen, und das "Karlsjahr" 2014 lockte viele Besucher nach Aachen und auch nach Ingelheim. Deshalb verbindet man hier die von ihm gegründete "Kaiserpfalz" viel lieber mit seinem Namen als mit dem seines Sohnes, Ludwig "des Frommen", oder mit dem der Ottonen, in deren Regierungszeit Ingelheim viel häufiger glänzende Veranstaltungen erlebte als unter Karl.
Zur dreitägigen Jahrtausendfeier der großen Synode von 948 unter Otto I., dem Großen, 1948
Unten: Logo des Aachener Karlspreises. Beim Anklicken öffnet sich dessen Homepage.
Die mittelalterlichen deutschen Könige und Kaiser sahen sich gern in der Nachfolge des "großen" Karl als Herrscher über das "Abendland" und versuchten ihre weit reichenden europäischen Herrschaftsansprüche auch dadurch zu legitimieren, dass sie ihre politischen Absichten als "renovatio" - "Erneuerung" von Karls Reich bezeichneten, als Erneuerung des Reiches Karls des Großen, das territorial ungefähr dem "Europa" der sechs Gründerstaaten der EWG entsprach (F, I, BRD, BENELUX). Insoweit hatte der Karlskult eine legitimatorische Funktion von Machtansprüchen, bis hin zu Napoleon.
Von Otto I. (936) bis zu Karl V. (1519) ließen sich - wann immer möglich - alle römisch-deutschen Könige in der ehemaligen Pfalzkapelle Karls in Aachen krönen, sie nahmen alle auf dem ihm zugeschriebenen Thron Platz, ganz in der Nähe seiner vermuteten Grabstätte. Otto III. ließ im Mai 1000 sogar sein Grab öffnen und fand ihn dort angeblich sitzend auf einem Thron vor, was wissenschaftlich bestritten wird. Er entnahm einen Backenzahn Karls, den er fortan als Amulett bei sich trug. Auf seinen Wunsch hin wurde auch er in Aachen neben dem Grab Karls bestattet.
Friedrich I. "Barbarossa" ließ aus dem Anlass der Heiligsprechung Karls am 29. Dezember 1165 das Grab Karls öffnen und seine Gebeine herausheben (Voraussetzung einer Heiligsprechung). Sein Enkel, der Sizilianer Friedrich II., ließ erneut seine Gebeine suchen und in den goldenen Schrein umbetten, der heute im gotischen Chor des Domes steht.
Als Karl IV. 1349 nach Ausschaltung seiner Gegner endlich in Aachen gekrönt werden konnte, stiftete er für die Hirnschale Karls des Großen eine kostbare Silberbüste als Reliquiar. Auch er ließ sich Reliquien Karls des Großen mit nach Prag geben (drei Zähne), gründete dort 1350 das Augustinerkloster Karlshof und ließ daneben eine prächtige Kirche nach Aachener Vorbild (Oktogon) bauen. Vier Jahre später (1354) ließ er in der ehemaligen Ingelheimer Pfalz Karls des Großen ein kleines Filialkloster des Prager Stiftes mit vier tschechischen Mönchen, das Karlsmünster, gründen. Er selbst nahm sechsmal an Wallfahrten nach Aachen teil.
Karl/Wenzel gab der Verehrung Karls des Großen in Aachen einen neuen Aufschwung. Zu diesem Zweck stiftete er 1362 einen Altar im Aachener Dom, zwar nicht ausdrücklich zur Verehrung Karls des Großen, sondern der Gottesmutter Maria und des tschechischen Heiligen Wenzel. Das Bildprogramm seines Altarbildes aus der Mitte des 15. Jahrhunderts jedoch führte wieder Karl und Wenzel wie in Ingelheim zusammen (s. Hilger). Dieser Altar stand im oberen Rundgang auf der Südseite neben dem Eingang zur Kapelle der hl. Anna und wurde 1734 abgetragen, das Altarbild befindet sich im Domschatz.
Auch der ungarische König Ludwig der Große (1342-1382) ließ 1367 eine eigene Kapelle für die zahlreichen Pilger aus dem Königreich Ungarn, zu dem auch das "Wenden"-Land (Slowenien, Kroatien) gehörte, im Aachener Dom errichten, die "Ungarische Kapelle", die bis heute, allerdings barock umgebaut, erhalten ist. Noch im Jahre 1495 stifteten die slowenischen Städte Laibach / Ljubljana und Crainburg / Kranj im Aachener Dom den "Vier-Doktoren-" oder "Slawenaltar", dessen Rektor Slowenisch sprechen können musste.
Nicht nur der regierende Adel, sondern auch das einfache Volk pflegte die Erinnerung an Kaiser Karl, pries ihn in Sagen, band ihn in Abzählreime ein ("Kaiser Kaiser Karl hatte einst kein Brot, da schlug er seine sieben Söhne tot...") schrieb ihm diese und jene Handlung oder Örtlichkeit zu - das Kloster Johannisberg gegenüber von Ingelheim soll z. B. von ihm gegründet worden sein - , Minnesänger besangen ihn, eine Kaiserchronik (etwa 1150) ließ ihn in Ingelheim geboren sein und stilisierte die hiesige Pfalz geradezu zu einer Lieblings-Residenz Karls; man verehrte ihn mit solcher religiösen Inbrunst, dass es dem Kanzler Barbarossas und Erzbischof von Köln, Rainald von Dassel, sogar gelang, bei dem Gegenpapst Paschalis seine Heiligsprechung durchzusetzen (1165). Auch er hatte dabei politische Motive: die Erneuerung der Herrschaft über Italien durch Barbarossa. Zwar wurde sein Gedenktag, der 28. Januar, in der katholischen Kirche nie offiziell anerkannt, seine Verehrung als Heiliger wurde und wird jedoch geduldet, nach wie vor werden jährlich Gedenkmessen in Aachen und Frankfurt/Main abgehalten.
Unter dem Eindruck der großen Pestwelle 1348 hatte sich eine Form der Volksfrömmigkeit verstärkt, die durch religiöse Wallfahrten Gott um ein Ende der Pest bitten wollte, die aber selbst zu ihrer weiteren Verbreitung sorgte: die Züge der "Geißler" (Flagellanten).
Diese zogen in Gruppen (Bruderschaften) durch die Lande und geißelten sich selbst in der Öffentlichkeit zur Buße.
Rechts: Darstellung eines "Geißlers" aus Sebastian Münsters Cosmographia 1545, S. 233
Als Volksbewegung schon eher (1260?) entstanden, fanden solche Geißler-Gruppen ab 1349 großen Zulauf, besonders in Ungarn und Österreich. Als Karl IV. 1349 in Aachen gekrönt werden wollte, musste er einige Tage vor der Stadt warten, weil Aachen voller Wallfahrer und/oder Geißler war! Diese waren wegen der Pest zu einer außerplanmäßigen Heiligtumsfahrt nach Aachen gekommen.
Die Kirche versuchte diese unkontrollierte Volksfrömmigkeit, die oft auch mit Kritik an der etablierten Kirche verbunden war, zu kontrollieren; im Oktober 1349 verbot Papst Clemens VI. die Geißlerbewegung, was diese aber nicht sofort beendete.
In diesem historischen Umfeld gesteigerter existentieller und religiöser Erregung muss man die gewachsene Bedeutung einer älteren Aachener Heiltumsfahrt verstehen, die vielleicht schon seit 1239 stattfand; sicher bezeugt ist sie ab 1312. Diese Wallfahrt trat in zwei Formen auf:
a) als Bußwallfahrt jederzeit (etwa als Sühne für einen Totschlag) und
b) als regelmäßige Wallfahrt alle sieben Jahre (siehe unten)
Sie gilt vier Reliquien in Aachen, die zur Einweihung der Marienkirche 799 aus Jerusalem geschickt wurden und die nach Fertigstellung des neuen Karlsschreines zwischen 1220 und 1238 ihren Platz in einem neuen Marienschrein des gotischen Chores fanden. Es sind dies bis heute:
- ein Kleid Marias
- Windeln von Jesus
- das Enthauptungstuch von Johannes dem Täufer
- und das Lendentuch Christi
Sie werden - eingepackt - seit 1349, seit der Aachener Krönung Karls IV., nach einem genau festgelegten Ritus im Juni zwei Wochen lang vom Domturm aus den Gläubigen gezeigt, so auch wieder im Jahr 2014, vom 20. bis zum 29. Juni ("Heiltumsweisung").
Die Pilger erwarteten sich von dieser Wallfahrt einen hohen Ablass ihrer zeitlichen Sündenstrafen. Seit damals pilgerten besonders gern Gläubige aus Böhmen, Österreich, der Steiermark, Slawonien (im Osten Kroatiens), überhaupt aus dem großen Königreich Ungarn, wozu auch viele slawische Gebiete gehörten, zur Verehrung der Heiligtümer und Karls nach Aachen (Karlswallfahrt, Aachenwallfahrt, Ungarnwallfahrt).
Seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mag auch die wachsende Bedrohung Ungarns durch die Türken eine Rolle gespielt haben. Die sogenannten "Ungarn" bildeten die größte und auffälligste Gruppe der Aachenwallfahrer, die ansonsten aus vielen Gegenden Deutschlands und seiner Nachbarregionen (außer Frankreich) kamen und noch immer kommen. "Ungarn" nannte man die meist aus slawischen Gebieten kommenden Wallfahrer, weil sie aus dem großen Königreich des ungarischen, böhmischen und deutschen Königs Sigmund kamen.
Viele Wallfahrer schlossen an den Besuch Aachens weitere "Anschluss"- Wallfahrten an, so zum benachbarten Kornelimünster, gegründet von Karls Sohn Ludwig.
Elisabeth Thoemmes ist der Frage nachgegangen, wieso sich diese Sitte der Wallfahrt nach Aachen gerade im ungarischen Raum herausgebildet habe. Als mögliche Erklärungen nennt sie die zahlreichen Auswanderungen aus Deutschland nach Ungarn, und zwar besonders aus dem wallonischen Liège/Lüttich, zu dessen Bistum Aachen gehörte. Die Auswanderer hätten z. T. ihre Verbindungen in die alte Heimat aufrechterhalten. Außerdem sei der Handel zwischen dem Niederrhein-Gebiet und Ungarn ganz erheblich gewesen.
Die alle sieben Jahre stattfindende Wallfahrt ist seit dem Mittelalter nur ganz selten ausgefallen; Wynands nennt als Ausfalljahre 1510, 1636, 1797, 1916, 1923 und 1944.
Die Wallfahrt im Jahr 2021 musste wegen der Corona-Epidemie ausfallen, wurde aber 2023 nachgeholt. Im Internet findet man aktuelle Meldungen und Bilder unter der heutigen Bezeichnung "Heiligtumsfahrt" mit der Adresse "https://heiligtumsfahrt-aachen.de/start/ (11.10.24).
Nach dem Verschwinden des "Eisernen Vorhanges" kamen 1993 zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder über 1000 Ungarn in einer geschlossenen Gruppe nach Aachen.
Im Unterschied zu den Geißlerzügen haben Kirche und Obrigkeit im Mittelalter die Aachenwallfahrt nicht behindert, sondern sie sogar gefördert. Zur Zeit der tschechischen Reformationsversuche (Hussiten) im 15. Jahrhundert ging die Beteiligung jedoch stark zurück. Nach der deutschen Reformation im 16. Jh. wurde diese Wallfahrt teilweise untersagt, was sie aber noch lange nicht beenden konnte. Zu Ende gingen die organisierten Gruppen-Wallfahrten aus dem Osten des Reiches erst mit einem Verbot der kaiserlichen Regierung in Wien unter Josef II. von 1776, dem sich auch der Kölner Erzbischof und Kurfürst anschloss.
Henn versuchte eine Antwort auf die Frage zu geben, wie viele Pilger an einer solchen Wallfahrt teilgenommen haben könnten. Aus Köln gibt es noch 1769 eine Nachricht, dass dort 265 Aachenpilger gezählt wurden; ob das alle Pilger jenes Jahres waren, ist unklar, es war aber die letzte überlieferte Wallfahrt nach Aachen. In ihrer Blütezeit, vermutet Emmerling, müssen es "mehrere tausend, wenn nicht gar Zehntausende gewesen sein" (S. 121). Und Wynands berichtet von täglich 100.000 Wallfahrern, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts wieder in die Stadt Aachen drängten, dies natürlich nicht alles Wallfahrer aus "Ungarn"! (S. 13)
Claus Palm berichtet von einem Besuch 1982 in Laibach (= Ljubljana). Dort sei ihm am Dom eine hochbetagte Dame begegnet, "ganz und gar noch k. u. k. - geprägt". Deren Augen hätten geleuchtet, als sie hörte, dass die Besucher vom Rhein kamen, denn sie hatte noch gute Erinnerungen an eine Wallfahrt nach Aachen, zu der sie ihre Eltern vor dem Ersten Weltkrieg mitgenommen hätten. Als sie mit der Eisenbahn Ingelheim erreicht hätten, hätten sich ihre Eltern erhoben und diese Ehre der Erinnerung an Karl den Großen erwiesen.
Ein Zugweg der tschechischen Wallfahrer verlief am Main entlang. In Miltenberg sammelten sie sich, weil ab dort damals der Main schiffbar war, und zogen den Fluss hinab - zu Fuß oder per Schiff - , überquerten den Rhein bei Mainz, fuhren entweder auf dem Rhein weiter abwärts oder, wenn die Pilger dazu nicht das Geld hatten, zogen sie zu Fuß weiter über Mainz, Finthen, Wackernheim, Ingelheim, Ockenheim und Bingen in Richtung Aachen.
Ein wichtiger Rastplatz am Mittelrhein war Andernach.
Im Ingelheimer Bereich gab es nach Emmerling zwei traditionelle Rastplätze:
a) einen auf der "Steig", d. h. an der Plateaukante (heute beim ehemaligen Hotel Multatuli), von wo man einen herrlichen Blick ins Rheintal hinab hat, weit über Bingen hinaus in den Hunsrück und rechts in den Rheingau und den Taunus; von dort ging es abwärts nach und durch Nieder-Ingelheim. Emmerling berichtet, dass es am dortigen Rastplatz zumindest seit dem Jahre 1389 ein steinernes Kreuz gegeben habe, bei einem tiefen Brunnen unter Apfelbäumen; sein Vater habe an dieser Stelle immer den Pflug anheben müssen (im 19. Jh.).
Im Jahre 1502 wurde an der Stelle des Kreuzes eine Kreuzkapelle errichtet, gestiftet durch ein begütertes Ehepaar aus Heidesheim. Weitere Schenkungen für diese Kapelle erfolgten 1514, 1516 und 1524.
Auf eine Anordnung des reformierten Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz von 1565 wurde ihr Altar beseitigt und ihre Mauern der Bevölkerung zum Abbau überlassen. Ihr Gebäude ist auf der Rheingaukarte von 1573 noch eingezeichnet (oben links als "Capell"; "Saal" und Nieder- Ingelheim in der Bildmitte, Ober-Ingelheim rechts). Heute erinnert an sie noch der Flurname "Auf der Kreuzkirch". - Foto der Rheingaukarte: Gs
b) Einen zweiten Rastplatz gab es zwischen dem Ingelheimer Weiler Sporkenheim und dem kurmainzischen Gau-Algesheim, an der alten Landstraße ("Holtzweg"), die nördlich der Algesheimer Landwehr in einem leichten Bogen verlief; im Jahre 1577 hat der Mainzer Amtsschreiber und Kartograph Mascop ihn auf seinem Blatt "Gau-Algesheim" eingezeichnet (s.u.); seine Beschreibung dazu lautet:
"Erstlich am Sporckenumer wegh bey dem landtwehr ist ein schlag und ein brun, dabei ein steinern stock, da man das Heilig Sacrament (wen die Hungaren betfart hilten) in pflegt zu stellen. Nota vor diesem schlag und landtwehr gehet ein offentliche landstras furuber, welche stras sie nennen den Holtzwegh ... Uber den obgenanten wegh haben die Algeßumer alltzeyt (wen die Walfart vorhanden) ihre Zeltten und Hutten (die Hungarische zu speisen) gestalt.
D.h.: Erstens am Sporkenheimer Weg bei der Landwehr ist ein Schlagbaum und ein Brunnen, dabei ein steinerner "Stock", wo man das Hl. Sakrament hineinzustellen pflegte (wenn die Ungarn Betfahrt hielten). Man beachte: Vor diesem Schlagbaum und der Landwehr führt eine öffentliche Straße vorüber, die man den Holzweg nennt. Auf der anderen Seite dieses Weges haben die Algesheimer immer, wenn die Walfahrt stattfand, ihre Zelte und Hütten aufgestellt, um die Ungarn mit Speisen zu versorgen.
Der erwähnte "Brun(nen)" dürfte der urkundlich bekannte "Strasserborn" gewesen sein, der "steinern Stock" ein steinernes Sakramentshäuschen zur Aufbewahrung der Hostien, das vielleicht mit einem Heiligenbild verziert war und im Flurnamen "Bilgesgewann" fortlebt, wobei aus "Bildches" "Bilges" wurde, gesprochen "Bilches".
Dort haben Bewohner des benachbarten mainzischen Gau-Algesheim, immer wenn Wallfahrt war, Zelte und Hütten zur Verköstigung der "Ungarn" aufgestellt, was vom Mainzer Domkapitel verschiedentlich (1517, 1524, 1538) durch Spenden von Wein, Getreide und Geld unterstützt wurde.
Links auf dem Mascopschen Plan von 1577 sieht man die beiden Ingelheim, in der Bildmitte die großen Rundzelte für die Wallfahrer und Pilger mit ihren Pilgerstäben entlang der Straße zwischen Ingelheim und Bingen, da wo der Weg von Algesheim - oben rechts - hinab nach "Sporckum" verläuft; "Schlag" und "brun" sind weiter in Richtung Algesheim eingezeichnet: die "Hungarische Walfart".
Das Algesheimer Gebiet war nach Sporkenheim und Ockenheim zu durch einen Graben und ein Gebück, die "Algesheimer Landwehr", abgeschirmt. In der Bildmitte der Algesheimer Galgen ("das gericht").
Bei Erler findet sich auf S. 20, Anm. 33 ein Bericht aus Miltenberg von Johannes Butzbach (ca. 1500) über die Bewirtung der Pilger:
"Kommen auch frembde pilger alle woch aus Ungern, Böheim und anderen ländern auf walfahrt gen Ach (= Aachen) in diese kapellen zur andacht. Die burger zu Miltenberg seind gar frumme verehrer Unserer Lieben Frawen und richten zur zeitt der heiligthumsfart nach Ach eine offene kuchen auff dem marckt und gezelt für die pilger und speißen selbige gar fründlich wie ich sonst nirgend gesehn noch erhört".
Wahrscheinlich sah es bei Sporkenheim und im Ingelheimer Saal ähnlich aus. Erstaunlicherweise gibt es kein direktes schriftliches Zeugnis für ein Zusammenwirken der böhmischen Mönche im Karlsmünster mit den Wallfahrern aus ihrer Heimat im Saal. Tschechisch, so war in der Gründungsurkunde genau wie bei der Aachener Karlskapelle ausdrücklich festgehalten, mussten sie aber sprechen können, natürlich - wie in Aachen - wegen der Pilger aus Böhmen ("pro subjectis Boemis", für die böhmischen Untertanen), wie es in der Wappenlegende des Ingelheimer Stiftskapitels heißt. Die Augustiner haben sich um die Pilger gekümmert, wahrscheinlich mit Eucharistie und Beichte.
In der Probsteikirche, der Saalkirche, konnten sie an mindestens zwei Altären (einer für Wenzel und Karl und einer für eine selige Jungfrau Nupurgis), Ablass bekommen, am Wenzel-Karl-Altar ein Jahr und 40 Tage durch einen Ablassbrief des Papstes Urban von 1387 und an einem Altar für die Nupurgis 40 Tage durch eine Indulgenz des Erzbischofs Johannes II. von Mainz von 1407. Dabei wurde wohl auch das Bild des heilig gesprochenen Kaisers Karl verehrt, das heute im südlichen Querschiff der Saalkirche hängt. Die Mönche erzählten den Pilgern, wie der Abt Trithemius berichtet, dass seine Geburtskammer und der Raum, wo er das Glaubensschwert vom Engel überreicht bekam, jetzt ihr Bibliotheksraum mit einem Altar sei.
Ob der damals noch nicht zugebaute Saal auch als Lagerplatz für die Wallfahrer gedient hat, lässt sich nicht erweisen.
Aus einigen Gerichtsverfahren und Gemeinderechnungen sind uns einzelne Begebenheiten dieser Wallfahrten überliefert, über die Emmerling und Henn berichten:
Wahrscheinlich aus Sorge um den guten Ruf ihre Weines verklagte die Gemeinde Nieder-Ingelheim am 27. Juli 1384 (ein Normaljahr), als sogar ein wendischer König mit großem Gefolge daran teilgenommen haben soll, einen Emmerich Helwig, weil er den Aachenpilgern "faulen" Wein ausgeschenkt hatte. Das Gericht rügte ihn dafür.
Wenn die durchziehenden Pilger hier über Nacht campierten, musste für Sicherheit und Ordnung gesorgt werden, so dass Bewohner Ober-Ingelheims, wo das durch Gemeinderechnungen bezeugt ist, aber sicher auch die besonders davon betroffene Gemeinde Nieder-Ingelheim Nachtwachen aufgestellt haben, um zu verhindern, das Wingertspfähle von den Pilgern verfeuert wurden (Damals war noch jede Rebe an einem eigenen Pfahl angebunden.) Büttel, Gesellen, einmal sogar der Bürgermeister selbst bekamen aus der Gemeindekasse Speisen und Wein bezahlt (1493 "als die Heiden hier waren" und 1495 "do die heiden hie waren"). Beide Jahre waren keine Normaljahre der alle sieben Jahre stattfindenden Wallfahrten, denn das wären 1489 und 1496 gewesen. Im Normaljahr 1517 bekamen die Wachen einen Gulden dafür bezahlt.
Bemerkenswert ist die Bezeichnung "Heiden" für die Aachenpilger. Sie kamen den Ingelheimern wohl nicht sehr christlich vor.
Eine Wallfahrt konnte man auch zur Sühne für begangene Verbrechen auf sich nehmen, und so hat sich am 16. August 1389 ein Mörder mit den Hinterbliebenen seines Opfers dahingehend verglichen, dass er u.a. eine Sühnewallfahrt nach Aachen machte. Sühnewallfahrten mussten innerhalb von eineinhalb Jahren durchgeführt werden und mit einer Bescheinigung, einem kleinem Zeichen aus Blei vom Wallfahrtsort, belegt werden. Nicht Reisefähige konnten auch gegen Bezahlung einen Stellvertreter schicken (so 1419). Diese Wallfahrten müssen wegen der Befristung auch außerhalb der alle sieben Jahren stattfindenden großen Ungarnwallfahrt möglich gewesen sein.
Emmerling und Thoemmes weisen auch darauf hin, dass die Errichtung einer großen Zahl von Heiligenhäusern, Kapellen und Bildstöcken am Rhein möglicherweise auf die Blütezeit dieser Ungarnwallfahrt zurück zu führen ist. Außerdem sei die Errichtung von Spitälern am Zugweg, so vielleicht auch des Spitals bei der Remigiuskirche in Nieder-Ingelheim, als dessen Spitalmeister 1486 Endres Münster, der Vater von Sebastian Münster, genannt wird, auf den verstärkten Pflegebedarf der Wallfahrer zurück zu führen. Spitäler waren damals allerdings nicht nur Kranken- und Pflegehäuser, sondern dienten auch der Armen-, Alten-, Witwen- und Waisenversorgung.
Gs, erstmals: 28.03.06; Stand: 09.10.24