Autor: Hartmut Geißler
aus: Geißler, Volksschulgeschichte, BIG 56, S. 177 ff.
Wie in den Dokumenten zu Nieder-Ingelheim hat auch das Problem der Schulstrafen bei Schulversäumnissen in Ober-Ingelheim einen mehrfachen Niederschlag in den Archivunterlagen gefunden.
Hier zwei Beispiele:
Am 5. Januar 1855 wandte sich der Schulvorstand der evangelischen Schule in Ober-Ingelheim an den Kreisrat um Unterstützung:
M. W., Tochter des Korbmachers J[akob] W., hier, besucht schon seit mehreren Wochen die Schule nicht, angeblich, weil das Kind keine Schuhe habe. Dies hindert es jedoch nicht, bettelnd das hiesige und die benachbarten Orte zu durchziehen. Wir trugen deshalb Sorge, daß das Kind auf Kosten der Gemeinde ein Paar Schuhe gemacht wurden.
Dessen ungeachtet weigerte sich der Vater auch jetzt noch, das Kind zur Schule zu schicken, und daß der Gemeindediener das strafbare Kind der nach Art. 21 des Edicts über das Volksschulwesen wiederholt zur Schule abholen sollte, jedesmal unverrichteter Sache abziehen mußte.
Mit Geldstrafen ist gegen den renitenten Vater nicht einzuschreiten, da er bisher immer von der Gemeinde unterstützt werden mußte. Ich bitte deshalb das Gr. Kreisamt, da wir an der Grenze unserer Befugnis angekommen sind, um kräftige Unterstützung, mit den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen Nachdruck und Geltung zu verschaffen. Daß Ihnen ferner gefallen möge, umgehend geneigte Verfügung zu erlassen. Diese Bitte dürfte wohl bei vorliegenden Verhältnissen hinreichend begründet sein.
Der Korbmacher Jakob W. hatte mit zwei Frauen, deren erste 1839 starb, zehn Kinder, von denen fünf schon im Kleinkindalter starben. Er hatte – aus seiner Sicht – wahrscheinlich ganz andere Probleme, als für den regelmäßigen Schulbesuch seiner Kinder zu sorgen.
Der evangelische Schulvorstand, bestehend (u.a.) aus Pfarrer (!) und Bürgermeister, hatte aber kein Verständnis für die elende Situation der Familie, sondern ganz andere Vorstellungen vom richtigen Leben.
Auch eine Generation später fiel dieselbe Familie wieder auf:
Die Schüler Jordan und Oskar W. wurden von ihrem Vater Balthasar W., wohl einem Bruder des bettelnden Mädchens von 1855, der Schule entzogen. Hierzu teilte das Kreisamt Bingen am 29. August 1885 dem Ober-Ingelheimer Bürgermeister als dem Vorsitzenden des Schulvorstandes mit:
Wir haben heute dem Schulvorstand Ihrer Gemeinde aufgegeben, gegen die Widersetzlichkeit des Rubricaten bezüglich des Schulbesuchs seiner Kinder durch monatliche Feststellung der Strafgelder aufzukommen. Wir wollen nun bei Einreichung der Verzeichnisse der Schulstrafgelder alsbald die Eintreibung dieser veranlassen und eventuell Pfändung vornehmen lassen. Ergibt diese keinen Erfolg, so ist an uns wegen Umwandlung der Geldstrafe in Haft zu berichten. Außerdem wollen Sie dem Ortsdiener die Auflage machen und auf deren Ausführung regelmäßig sehen, daß er an jedem Schulhalbtage zur Abholung der betreffenden Schüler in das Wohnhaus des Rubricaten sich verfügt, um diese zur Schule abzuholen. Widersetzt sich der Vater der Abholung der Kinder, so wollen Sie darüber Protokoll aufnehmen und dies an uns einsenden.
Am 30. November 1896 wandelte die Kreisverwaltung Bingen die Schulversäumnisstrafen gleich von vier Ober-Ingelheimer Vätern in einem Sammelschreiben in Haft um:
• Für Gustav Schw. 4 Tage Haft
• Für Lorenz G. 6 Tage Haft
• Für Michael H. 3 Tage Haft
• Anton M. II. 7 Tage Haft
Widersetzlichkeit, Strafgelder, Eintreibung, Pfändung, Umwandlung in Haftstrafe, Abholung durch den Ortsdiener, Protokoll, Zwangswege, Strafverbüßung – die Schulverwaltung wollte und sollte offenbar jahrzehntelang mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den regelmäßigen Schulbesuch durchsetzen, obwohl diese Zwangsmaßnahmen bei armen Familien zu keinem nachhaltigen Umdenken führten.
Das änderte sich wahrscheinlich erst mit dem Wandel der Berufsstrukturen im 20. Jahrhundert, als die sich entwickelnde Industriegesellschaft zunehmend höher qualifizierte Arbeiter und Angestellte brauchte und solche Eltern ihre Kinder nicht mehr im eigenen Beruf mithelfen lassen konnten, sondern ein wachsendes Interesse an einer möglichst guten Schulbildung ihrer Kinder bekamen.