Autoren: Hartmut Geißler ab 2005 und André Madaus (2024)
In Ingelheim wurden rund 50 Gräber aus römischer Zeit gefunden. Bei den meisten handelt es sich um einfache Brandbestattungen des 1./2. Jh., deren Beigaben teilweise im Museum ausgestellt sind.
Unter den spätrömischen Sarkophagen aus Ingelheim ist ein Exemplar hervorzuheben, für das ein aufwändiger Grabstein einer gallo-römischen Familie des 2. oder 3. Jh. in der ersten Hälfte des 4. Jh. als Deckel wiederverwendet wurde. Er steht als Original im Museum.
Die ursprüngliche Inschrift lautet übersetzt:
Dem Martialius Miccio und der Ibliomaria Bodica, ihren Eltern, hat die Tochter Miccionia Ammisia [dieses Grabmal] machen (F[acere]) lassen (C[uravit]).
Dabei wurden 4 Ligaturen verwendet, bei denen ein etwas größeres I mit den Nachbarbuchstaben L, E, R und N verbunden wurde.
Der bedeutendste Ingelheimer Grabfund aus römischer Zeit reicht in das Jahr 1853 zurück. Damals fand ein Bauer in Nieder-Ingelheim nördlich der heutigen Autobahn drei aus lothringischem Kalkstein gefertigte Statuen mit dem Gesicht nach unten in der Erde. Zwei der Figuren sind fast vollständig erhalten, die dritte ein Torso aus Kopf und Oberkörper. Der Finder verkaufte die Objekte an Albertus Gerrit de Roock, einen niederländischen Kaufmann, der sie kurz darauf dem Verein für Nassauische Altertumskunde in Wiesbaden schenkte. Erst im Oktober 2021 wurden die bis dahin in Ingelheim ausgestellten Abgüsse durch die Originale ersetzt, die vorerst als Leihgabe für fünf Jahre aus Wiesbaden an ihren Fundort zurückgekehrt sind.
Bei den drei Statuen handelt es sich um einen Mann in einer Toga und zwei Frauen. Sie gehörten ursprünglich zu einem Grabmonument, das 2022/23 im Rahmen des bundesweiten Projekts museum4punkt0.de digital rekonstruiert wurde. Zu diesem Zweck wurden verschiedene archäologische, kunsthistorische und naturwissenschaftliche Untersuchungen an den Figuren durchgeführt, die in der Fachwelt als herausragende Beispiele antiker Bildhauerkunst in den römischen Provinzen gelten. Ferdinand Kutsch etwa erkannte bereits 1930 ihre herausragende Qualität, als er sie mit Skulpturen von der römischen Gräberstraße im nahen Mainz-Weisenau verglich. Er stellte fest, dass die Ingelheimer Figuren „eine gewisse vornehme Haltung" aufwiesen und ihre Köpfe „von innen heraus“ lebten: „Hier pocht es unter der Haut und ist seelische Spannung im Gesicht, (es) lebt noch etwas Vergeistigung im griechischen Sinne, und das gerade hebt sie heraus.“ Die Archäologin Walburg Boppert kam 2005 zu einer ähnlichen Einschätzung, als sie im Rahmen ihrer Untersuchung der Weisenauer Gräberstraße „die Ingelheimer Grabfiguren als die geglücktesten Werke“ bezeichnete.
Die Vergleiche mit anderen Grabsteinen der Region aus dieser Zeit, etwa mit dem des Schiffers Blussus und seiner Frau Menimane, legen nahe, dass die Ingelheimer Figuren in derselben Werkstatt, der sog. Blussus-Annaius-Werkstatt in Mainz, gefertigt worden sein müssen. Einigkeit besteht auch hinsichtlich der Datierung: Kleidung, Schmuck und Haartracht lassen auf eine Errichtung des Monuments zwischen 40 und 55 n. Chr. schließen, also in der Zeit des Kaisers Claudius. Ein zu Wohlstand und gesellschaftlich hohem Ansehen gelangter römischer Bürger, womöglich ein Veteran einer der Mainzer Legionen, ließ es wohl für sich und seine Familie errichten. Eine Inschrift mit Namen, die einst zweifellos vorhanden gewesen ist, wurde nie gefunden. Das gilt auch für sonstige Elemente der Architektur, weshalb angenommen wird, dass das Monument selbst noch in römischer Zeit niedergelegt und alle brauchbaren Teile andernorts als Spolien wiederverwendet wurden. Durch Vergleiche mit Funden aus anderen Regionen im Römischen Reich lässt es sich dennoch plausibel rekonstruieren.
Die Statuen veranschaulichen den Prozess der Romanisierung, also die allmähliche Anpassung der einheimischen Bevölkerung an die Sitten und Gebräuche der Römer. Gräber mit figürlichen Darstellungen der Verstorbenen waren der ansässigen keltischen Kultur fremd, diese Sitte kam erst mit den Eroberern aus Italien an den Rhein. Kleidung und Schmuck der beiden weiblichen Verstorbenen, etwa die Distelfibeln, sind noch überwiegend von der Tracht der einheimischen Bevölkerung geprägt. Vermutlich stammten sie also aus der Region, womöglich sogar aus dem heutigen Rheinhessen. Beide Frauenfiguren tragen aber gleichzeitig eine Palla, das typische lange Obergewand römischer Frauen. Im Unterschied zu dieser Mischtracht präsentiert sich die männliche Statue durch und durch „römisch“: Der sog. Togatus trägt die namensgebende Toga, mit der er sich als Bürger des Imperium Romanum präsentiert. Sein verlorener linker Arm wurde daher mit einer Schriftrolle (volumen) in der Hand rekonstruiert. Passend dazu wurde ein Schriftrollenbehälter (scrinium) zu seinen Füßen ergänzt.
Ein wahrer Glücksfall der Archäologie sind die Reste der einstigen Bemalung, die an zwei Figuren noch mit bloßem Auge zu erkennen ist: Nur dadurch war es möglich, auch ihre Farbigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu rekonstruieren. Im August 2022 hatte Prof. Dr. Ernst Pernicka vom Mannheimer Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie (CEZA) Mikroproben entnommen und im Labor mittels Rasterelektronenmikroskopie und Röntgendiffraktometrie deren chemische Zusammensetzung ermittelt. Dabei stellte sich heraus, dass für die noch deutlich sichtbare rote Farbe Rötel (Roter Ocker) aus dem Mineral Hämatit verwendet wurde, ein in der Antike übliches Pigment für Rot- und Gelbtöne. Überraschender war der Ursprung der schwarzen Farbspuren: Diese Pigmente wurden offenbar mit Knochenasche hergestellt. Für römische Wandmalereien war eher Ruß oder Pflanzenasche gebräuchlich.
Im April 2023 folgten weitere Untersuchungen durch Dr. Louisa Campbell von der Universität Glasgow, eine renommierte Expertin für die Analyse von Farbpigmenten auf prähistorischen, römischen und mittelalterlichen Skulpturen. Sie nutzte verschiedene neuartige Analyseverfahren, die sie zum Teil selbst mit entwickelt hat. Um die spärlichen Farbreste nicht noch weiter zu zerstören, arbeitete Campbell mit non-invasiven Methoden wie Mikrofotografie, Röntgenfluoreszenz, Raman-Spektroskopie und der sogenannten Visible Induced Infrared Luminescence (VIL). Mit diesem Verfahren konnte Dr. Campbell u. a. Spuren des Pigments „Ägyptisch Blau“, einem der ältesten künstlichen Farbstoffe der Welt, zweifelsfrei nachweisen.
Schon während der laufenden Untersuchungen wurde deutlich, dass die Statuen nicht einfach nur gleichmäßig flächig bemalt wurden. Die antiken Künstler, bei denen es sich um gut bezahlte Spezialisten gehandelt haben muss, simulierten Licht- und Schatteneffekte durch den raffinierten Einsatz von hellen und dunklen Abstufungen unterschiedlicher Farbtöne. Sie gestalteten die Farbigkeit also wie bei einem naturalistischen Gemälde, um den Figuren einen lebendigen Eindruck und eine spektakuläre Fernwirkung zu verleihen. Es zeigte sich zudem, dass kleinere Details, die der Steinmetz nicht herausarbeiten konnte, offensichtlich aufgemalt wurden. So entdeckte Dr. Campbell auf dem Ring der vollständigen Frauenstatue rote Farbpigmente, die vermutlich einen roten Stein, eine Gemme, darstellen sollten.
Die folgende digitale Rekonstruktion des Ingelheimer Römer-Grabmals ist Bestandteil der App „Ingelheim zur Römerzeit“ (IoS und Android), die in den Stores kostenlos heruntergeladen werden kann. In der Nähe des Fundortes am „Münzengraben“ befindet sich außerdem eine Infotafel in Gestalt der männlichen Grabfigur mit QR-Codes. Vor Ort (oder auch zuhause) kann das Monument mittels Augmented Reality im Kontext der römischen Siedlungslandschaft betrachtet werden.
Glasgefäße und eine Kanne aus Terra sigillata
Im Ausstellungskatalog werden insgesamt 48 Grabfunde aus römischer Zeit aufgelistet, darunter auch acht aus Frei-Weinheim. Eine römische Besiedlung von Frei-Weinheim, des Ingelheimer Hafenortes, dürfte deshalb außer Zweifel stehen.
Gs, erstmals: 25.07.05; Stand: 12.09.24