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Eduard Douwes Dekker (Pseudonym: "Multatuli")

* 1820 Amsterdam, †1887 Ingelheim

Auf der Basis eines Aufsatzes von Margarete Köhler (2000) und der angegebenen Literatur überarbeitet von Hartmut Geißler, unter Mithilfe von Dr. Nicole Nieraad-Schalke

Die Veranstaltungen, die im Jahr 2020 zur Erinnerung an seinen Geburtstag stattfinden sollten, sind fast alle der Corona-Pandemie um Opfer gefallen.


Im Jahre 1880 kam - 39 Jahre nach dem durch Zuckerplantagen auf Java reich gewordenen Albert Gerhard de Roock - wieder ein Niederländer, der auch einige Jahre auf Java gelebt hatte, nach Ingelheim, um hier seinen Lebensabend zu verbringen. Es war der Schriftsteller und ehemalige Kolonialbeamte Eduard Douwes Dekker, dem ein Gönner den Kauf eines Hauses auf der Steig finanziert hatte, von wo man den schönen und weiten Blick über Ingelheim hinweg auf Rhein und Rheingau genießen kann.

Eduard hatte nach zwei bis drei Jahren das Latein-Gymnasium verlassen und der Vater, ein Amsterdamer Kapitän, hatte ihn bei Amsterdamer Kaufleuten untergebracht, ein Beruf, den er später satirisch immer wieder verspottete. Danach nahm sein Leben einen ganz anderen Verlauf. Mit seinem Vater reiste er 1838 nach Java und fand dort 1839 bei der Kolonialverwaltung eine Anstellung, in der er sich durchaus bewährte und ein wachsendes Gehalt bezahlt bekam. 1846 heiratete er auf Java die verarmte Baronesse Everdina ("Tine") Huberta van Wijnbergen (1829-1874). Seine Karriere, die von einem zweijährigen krankheitsbedingten Europaurlaub unterbrochen war, verlief also anfangs recht erfolgreich. 1856 wurde er sogar zum "Assistent-Residenten" von Lebak ernannt, zum Regierungspräsidenten eines Regierungsbezirks im Südwesten von Java. Nebenbei wurde er auch schriftstellerisch tätig, er schrieb ein kleines Theaterstück und mehrere Artikel.

Sein Versuch, die ungesetzlicheAusbeutung der Untertanen durch den javanischen Fürsten, den "Regenten" seines Regierungsbezirks, Radhen Adhipatti Karta Natta Negara, und den diesbezüglichen Schlendrian der Kolonialverwaltung aufzudecken und anzuprangern, endete mit einem dienstlichen Verweisund der Androhung der Strafversetzung, weil darauf beharrte, dass ein Vorgesetzter in die Angelegenheit verstrickt war.

Der kolonialpolitische Hintergrund dieser Probleme war folgender:

Nach 1816 zogen die Niederländer zunächst ... eine Pacht von den einheimischen Bauern ein: In jedem Dorf hatte der Vorsteher dafür zu sorgen, dass ein Geldbetrag abgeliefert wurde, der zwei Fünfteln des Wertes der örtlichen Reisernte entsprach. General-Gouverneur Johannes van den Bosch erwirkte, dass um 1830 ein neues System eingeführt wurde, das so genannte cultuurstelsel. Statt Pacht zu zahlen, sollten die Bauern nunmehr ein Fünftel ihres Bodens zur Verfügung stellen, um auf diesem Land von der Regierung bestimmte Gewächse anzubauen. Zu diesem System gehörte auch, dass sie ihre Arbeitskraft 66 Tage im Jahr zugunsten der Regierung einsetzten. In der Praxis gingen die Belastungen für die Bauern häufig weit über die offiziellen Vorgaben hinaus. Die Waren wurden nach Europa verschifft und dort gewinnbringend verkauft.
(Wikipedia https://www.wikiwand.com/de/Geschichte_Indonesiens; 04.11.19)

Auf der englischsprachigen Wikipediaseite zu Lebak wird der Vorgang, der zu Dekkers Ausscheiden aus dem Kolonialdienst führte, so dargestellt (Übersetzung durch Gs):

Der Regierungsbezirk Lebak ist derjenige, in dem Eduard Douwes Dekker (Multatuli) im Jahr 1856 zum Stellvertretenden Regenten ernannt wurde. Douwes Dekker beobachtete, dass der einheimische Machthaber (Regent) die einheimische Bevölkerung ausbeutete und verlangte seine Absetzung. Dabei machte er einige Fehler. Er umging seinen direkten Vorgesetzten und überschätzte den Umfang des Missbrauchs seitens des Regenten. Der Regent, der aus dem lokalen Adel stammte, aber von der Kolonialregierung bezahlt wurde, befand sich regelmäßig in einer schwierigen Finanzlage, weil er die Patronageforderungen seiner großen Familie befriedigen musste, gemäß dem „adat“, dem traditionellen Gesetz. Der Missbrauch war der Kolonialverwaltung bekannt und wurde von ihr bis zu einem gewissen Ausmaß toleriert. Eine Regierungsuntersuchung noch im selben Jahr ergab allerdings einen erheblich stärkeren Missbrauch durch die unteren lokalen Beamten.
(https://www.wikiwand.com/en/Lebak_Regency, 03.11.2019)

Als Dekker auch beim Generalgouverneur kein Gehör für seinen strikt moralischen und auf das Gesetz pochenden Standpunkt fand, wurde er 1856 auf eigenen Antrag aus der niederländischen Kolonialverwaltung entlassen.

Der nun völlig mittellose Dekker kehrte ohne seine Familie, die er bei seinem Bruder auf Java zurückließ, nach Europazurück, wo er von nun an als armer Schriftsteller umherreiste, Vorträge hielt und sein Glück in Spielcasinos suchte. Er umgab sich dabei gerne mit jungen Frauen. Unter seinen Verehrerinnen war auch seine zweite Frau, Maria ("Mimi") Hamminck Schepel (1839-1930).

Sein 1859 in Brüssel in größter Armut geschriebenes Hauptwerk, der Roman "Max Havelaar", den er unter dem Pseudonym "Multatuli" (lat.: "Ich habe viel ertragen") verfasste und der 1860 erschien, war eine schonungslose und provokative Beschreibung der Missstände in Indonesien, wie er sie sah: Ausbeutung der Untertanen durch die einheimischen Fürsten und Tolerierung dieser Vorgänge durch die niederländischen Beamten. Damit erregte er großes Aufsehen in den Niederlanden, denn er war nicht der einzige Kritiker des nach dem Java-Krieg installierten Verwaltungssystems. Von 1850 bis 1870 hielten in Holland die Parlamentsdebatten um die "koloniale Frage" an, bei der sich Konservative und Liberale kontrovers gegenüberstanden.

Der mutige und stets hohe moralische Maßstäbe anlegende Autor war privat weniger moralisch, sondern eine ziemlich schillernde Persönlichkeit. Seine Realitätsferne, übergroße Sensibilität und erotische Ausstrahlung brachten dem Glücksspieler und Egozentriker so viele Probleme, dass er ständig auf der Flucht vor seinen Gläubigern war und psychisch und finanziell oft vom Absturz bedroht war.

Deshalb trennte sich 1870 seine erste Frau Tine von ihm, mit der er zwei Kinder hatte und die ihm in die Niederlande nachgereist war, denn sie hatte wegen seiner immer schlechten Finanzlage in ständiger Armut leben müssen. Die beiden Kinder wandten sich völlig von ihrem Vater ab.

1866 verließ er die Niederlande, nachdem er zwei lästernde Theaterbesucher öffentlich geohrfeigt hatte und ihm daraufhin eine Gefängnisstrafe drohte, und hielt sich in mehreren deutschen Städten auf (in Köln, Mainz, Koblenz, Wiesbaden, Frankfurt und in Bad Homburg). In den folgenden Jahren entspannte sich seine finanzielle Situation durch Autoren- und Vortragshonorare, obwohl er zunehmend in Spielcasinos spielte.

Nachdem seine erste Frau Tine 1874 in Venedig gestorben war, heiratete er 1875 seine langjährige Freundin Maria Hamminck-Schepel (1839–1930) und lebte mit ihr in Wiesbaden (wegen der dortigen Spielbank). Da diese zweite Ehe kinderlos blieb, adoptierte Mimi drei Jahre nach der Hochzeit einen Pflegesohn Eduard (Wouter/Walther) Bernhold (1876-1945), ohne Wissen ihres Mannes, der in dieser Zeit wegen einer Lesereise unterwegs war. Nach anfänglichem Protest gewann Eduard den ungewollten Sohn aber sehr lieb. In der Wiesbadener Zeit verfasste Douwes Dekker den größten Teil seiner Werke, und auch die Änderungen des Max Havelaar, die für eine Neuauflage von 1881 nötig wurden. Darunter waren neben zahlreichen Zeitungsartikeln

  • sieben Bände "Ideen"
  • die Abenteuer des kleinen Walther
  • Walther in der Lehre
  • und die Millionen-Studien über das Glücksspiel

Seine Briefe wurden posthum von Mimi herausgegeben.

Übersicht über seine Werke bei: https://www.dbnl.org/auteurs/auteur.php?id=mult001

Wie durch ein Wunder kam er 1881 zu einem großzügigen Darlehen eines niederländischen Gönners, der anonym bleiben wollte (nach Schenk 2019, S. 486: Dr. Johannes Zürcher), das ihm den Erwerb eines oberhalb von Nieder-Ingelheim gelegenen Hauses auf der Steig (Mainzer Straße), ermöglichte. Es war 1844 einstöckig durch N. Glöckle aus Mainz eigentlich als Gastwirtschaft erbaut worden war, deren Betrieb aber aus polizeilichen Gründen vom Kreisamt in Bingen verboten wurde.

Dekker ließ das Haus, das zwischenzeitlich mehrere Besitzer hatte, zweistöckig ausbauen (Auskünfte Stadtarchiv Ingelheim). Es ist das Grundbauwerk des ehemaligen Landhotels "Multatuli" oberhalb von Ingelheim, das auch nach Dekkers Tod mehrfach den Besitzer wechselte.

Über die Umstände dieses Kaufes schrieb er in einem Brief an Roessingk van Iterson vom 11. Oktober 1880 aus dem Rheingau:

... Vor etwa zehn Wochen bekam ich Besuch von einem Manne, den ich schon früher als sehr herzlich kennengelernt hatte. Zufällig war in seiner Gegenwart von einem Häuschen mit Garten auf der anderen Seite des Rheines die Rede, das zu kaufen sei. Wir hatten uns geäußert, daß wir es wohl haben möchten. Ernsthaft gemeint war, wenigstens von meiner Seite, dieser Wunsch nicht. Wohl aber glaube ich, daß Mimi den Besitz des Häuschens hübsch fand. Sicher lag in meiner Teilnahme am Gespräch kein Ernst; denn da ich kein Geld hatte, konnte ich an Kaufen gar nicht denken. Als ich meinen freundlichen Gast an die Bahn brachte, sagte er: „Was das Haus in Ingelheim angeht, kaufen Sie es nur!“ - „Ich habe kein Geld.“ - „Das habe ich. Und ich werde es Ihnen senden, sobald Sie es nötig haben.“ - Das hat er getan! Der noble Kerl hat, ohne einige Sicherheit vorauszuverlangen und mir überlassend, welche Rente ich bezahlen wollte, kurzum in edelmütigster und wackerster Weise 14 000 Mark gesandt.“ … „Das Haus liegt wohl nahe am Rhein, doch nicht daran, und zwar auf der Höhe an der Chaussee von Mainz nach Ingelheim. Der Boden ist historisch. In Ingelheim hatte Karl der Große einen Palast …

Im „post scriptum“ steht:
Ich habe noch vergessen, Ihnen zu sagen, daß mein herzlicher Helfer mir ausdrücklich verboten hat, seinen Namen zu nennen. Fischen Sie also nicht danach. (aus Henn, BIG 36, S. 121-123)

Dort lebte er fortan mit Mimi und dem Adoptivsohn sehr zurückgezogen. Er selbst pflegte kaum Kontakte zu den Ingelheimern, die ihn als Eigenbrötler und Sonderling erlebten. Im Streit lag er mit dem evangelischen Pfarrer, Dekan Walther, und dem Bürgermeister Werner. Die wenigen Dorfbewohner, mit denen er notwendigerweise Kontakt hatte und die in seinem Haus verkehrten, der Bauer Johann Möser und der Sattlermeister Peter Anton Hilgert, auch sein Hausbursche Michael Baumgärtner, erkannten in ihm jedoch einen liebenswerten, doch verletzlichen und vom Leben enttäuschten Menschen. Diese Enttäuschung über seine politische Wirkungslosigkeit durchzieht auch seine Briefe, die er aus Ingelheim schrieb.

Die zum Lebensunterhalt notwendigen Dinge wurden in einem durch zwei Hunde gezogenen kleinen Wagen die Steige hinauf transportiert.

Schriftstellerisch betätigte er sich in Ingelheim nicht mehr, sondern verbrachte seine Zeit mit Schachkorrespondenz und mit der Erziehung Walters, den er anfangs nicht in die Gemeindeschule von Nieder-Ingelheim gehen, sondern durch Privatlehrer unterrichten ließ. Er baute in seinem Garten Laubengänge und das "Waltherhäuschen" und ließ mit seinem Sohn gerne Drachen steigen. Auch saß er bei geeignetem Wetter oft auf den Stufen des Straßenbaudenkmals gegenüber. Unerwünschte Gäste, auch bettelnde Zigeuner, vertrieb er mit einem großen Hofhund. (Emmerling, BIG 17, S. 112-114)

Am 19. Februar 1887 verstarb er, von Asthma geschwächt, in seinem Haus. Sein Leichnam wurde nicht in Ingelheim begraben, sondern eingeäschert, und zwar in Gotha, weil dort seit 1878 das erste (und bis 1891) einzige deutsche Krematorium stand. Seine Urne wurde in Westerveld (Driehuis, Noordholland) beigesetzt, wo auch ein Denkmal steht, das an "Multatuli" erinnert.

Seine Witwe verkaufte das Haus in Ingelheim und reiste mit dem Adoptivsohn in die Niederlande , von wo aus Walther wie sein Adoptivvater nach Indonesien ging und Pflanzer auf Borneo wurde.

In Ingelheim verschwand "Multatuli" bald aus der Erinnerung. Die Erinnerungstafel an seinem ehemaligen Haus wurde deswegen auch von einem Auswärtigen am 11. Oktober 1908 angebracht, vom Dichter und Übersetzer des Max Havelaar, dem Sozialisten Wilhelm Spohr.

An seinem 100. Todestag (1987) wurde seiner in Ingelheim mit einer Literatur-Ausstellung im Rathaus gedacht. Den Festvortrag hielt Karl Heinz Henn (s. den Abdruck in BIG 36). Im Rahmen eines Multatuli-Symposiums gründete sich im selben Jahr die internationale Multatuli-Gesellschaft.

Als in den 1990-er Jahren das Neubaugebiet Am Grauen Stein bebaut wurde, wurde eine ihrer Straßen "Multatulistraße" genannt.

In Holland gilt Dekker heute als der bedeutendste niederländische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Auch in Deutschland erschienen mehrere Ausgaben seiner Werke, der "Max Havelaar" in erster Auflage schon 1875, übersetzt von Theodor Stromer.

Karl Heinz Henn beschrieb seine Persönlichkeit zusammenfassend ...

"... Eduards Hang, im Eintreten für seine Wahrheit unverrückbare Konsequenz, ja geradezu isolationistische, selbstmörderische Kompromißlosigkeit zu entwickeln. Darin sowohl, als auch im früh schon geäußerten Zuspruch an sich selbst: „Das muß du nicht zulassen“, bekundete sich stete Bereitschaft zu äußerster Unnachgiebigkeit im Vertreten und Durchsetzen von als Wahrheit erkannter Sicht auf begegnende Verhältnisse und ebensolche Unnachgiebigkeit in unbedingter Hilfsbereitschaft als Eintreten für andere, von mißlichen Verhältnissen Betroffene, bis zur völligen Selbstentäußerung. Es zeigten sich hierin und früh schon markante, unverwechselbare Wesenszüge in Multatulis Charakterstruktur. Kompromißloses, eigenen Vorteil völlig außer acht lassendes Eintreten für ... und in gleicher Weise konsequente Hilfsbereitschaft gegenüber ... blieben ihm bis ins Alter eigen. Schriftstellerruhm, berufliches Scheitern, viel Ungemach und oft drückende Armut, ja unverhülltes Elend gingen davon aus." (Henn, S. 88/89)

Literatur


Gs, erstmals: 19.06.09; Stand: 20.07.21