Autor: Hans Neumann
In: Meyer-Klausing, S. 619-637
Vorbemerkung (Gs): Das Leben des Nieder-Ingelheimer Juden und Kommunisten Walter Neumann ist nicht nur unter dem Aspekt des Widerstandes gegen die Naziherrschaft bemerkenswert, des bedeutendsten, der von einem Ingelheimer geleistet wurde, sondern es spiegelt darüber hinaus einen erheblichen Teil deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts, der sich ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR und des Sowjetkommunismus auch mit weniger Hemmungen betrachten lässt. Aus diesem Grunde übernehmen wir hier den Aufsatz seines Sohnes, Prof. Dr. Hans Neumann, mit dessen freundlicher Genehmigung ungekürzt, aber ohne seine Anmerkungen. Wir danken ihm herzlich dafür.
Jugend in Ingelheim
Mein Vater Walter Neumann kam am 23. Oktober 1905 in Nieder-Ingelheim am Rhein als ältestes Kind der jüdischen Eheleute Karl und Luise (Lilly) Neumann zur Welt. Seine Schwester Luise (Liesel, Lee) wurde am 24. Januar 1918, sein Bruder Hans (Harry) am 22. Januar 1920 geboren. Von 1911 bis 1914 besuchte Walter die Volksschule in Ingelheim, von 1914 bis 1921 die Mittelschule in Mainz. Darauf folgte von 1921 bis 1923 seine Ausbildung zum Weinküfer in der Firma Laufer & Co., deren Mitinhaber sein Vater war, in der Bahnhofstraße 54 (ab 1939 Stammhaus Möbel-Schwaab). Seinen Beruf übte er bis 1933 in Ingelheim und in Frankfurt/Main aus.
Bereits in jungen Jahren stieß Walter zur kommunistischen Bewegung, sowohl beeinflusst durch persönliche Begegnungen als auch angezogen durch die insbe-sondere in den frühen 1920er Jahren zunehmende Attraktivität der kommunistischen Ideologie unter Intellektuellen und in der Arbeiterschaft. Natürlich hatte dies auch mit einem, allerdings sehr konsequenten jugendlichem Ausbrechen aus den Bindungen des von Walter als konservativ empfundenen Elternhauses zu tun. Walter trat dem Kommunistischen Jugendverband (KJVD) bei und wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und der Roten Hilfe (RH). Politisch war er in Frankfurt/Main, Mainz und Ingelheim aktiv. Den politischen Anschauungen und Aktivitäten seines Sohnes war der Vater, der sich für die (liberale) Deutsche Demokratische Partei engagierte, nicht sehr zugetan, zumal Walter, wie seine Schwester später berichtete, entsprechende politische Agitation auch in der väterlichen Firma entfaltete. Geschlichtet wurden derartige Auseinandersetzungen von der Mutter mit Verweis auf die Jugend des Sohnes. Die Wirkung der agitatorischen Tätigkeit von Walter, vor allem unter Gleichaltrigen, war auch verbunden mit sportlichen Aktivitäten, vor allem im Fußball. Sie führten einmal dazu, dass - wiederum nach Aussage der Schwester - der katholische Pfarrer im jüdischen Elternhaus vorstellig wurde, um die Einstellung der - offensichtlich nicht ganz wirkungslosen - Jugendarbeit Walters unter den katholischen Jugendlichen zu fordern. Als Kommunist war Walter ein konsequenter und aktiver Gegner der Nationalsozialisten. Als solcher war er auch bekannt.
So kam es, dass bereits kurz nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 diese bei ihm zu Hause in Ingelheim erschienen und nach ihm suchten, um seiner habhaft zu wer-den. Rechtzeitig gewarnt konnte er jedoch in Frankfurt/Main untertauchen. Als jüdischer Kommunist war er jetzt in besonderer Weise gefährdet, d. h. er musste schlicht um sein Leben fürchten. Dies wussten auch seine Genossen in der KPD. Eine (illegale) Tätigkeit in Deutschland kam daher nicht in Betracht, so dass sehr rasch klar wurde, dass Walter emigrieren musste. Zuvor traf ihn jedoch noch einmal seine Schwester Liesel zusammen mit ihrer Cousine Gerda, zu denen mein Vater ein besonders enges Verhältnis hatte, in Frankfurt/Main, um ihm Geld, das ihm seine Familie als Unterstützung zugedacht hatte, zu überbringen.
Meine Tante Liesel hat mir später diese Begegnung als einen konspirativen Vorgang geschildert. Danach war der Familie eine Information über den Ort zugegangen, wo man Walter treffen konnte. Hierbei handelte es sich um eine Wohnungsadresse in Frankfurt/Main. Dort angekommen, wurden Liesel und Gerda von einem ihnen unbekannten Mann empfangen und in ein Zimmer geleitet. Dann verschwand dieser und die beiden jungen Frauen blieben zunächst allein, wobei ihnen dabei gar nicht wohl war. Nach ein paar Minuten erschien dann Walter. Nach der Begegnung verließ Walter als erster den Raum, bevor Liesel und Gerda nach einer kurzen Pause von dem anderen Mann wieder zur Tür geleitet wurden.
Emigration in Frankreich und Litauen
Am 1. April 1933 emigrierte Walter ins Ausland, und zwar über Luxemburg nach Frankreich, wo er in Paris unterkam. Hier arbeitete er u. a. für die KPD, die in Paris den Sitz ihrer Auslandsleitung hatte, und erledigte für die Partei konspirative Aufträge. Das Leben in der Emigration war dabei keineswegs einfach, da zum einen die täglichen Lebensumstände recht spartanisch waren und zum anderen die Emigranten im Allgemeinen - und die kommunistischen Flüchtlinge im Besonderen - Schikanen seitens der französischen Behörden ausgesetzt waren. Es gestaltete sich immer wieder als äußerst schwierig, die entsprechenden Aufenthaltsgenehmigungen zu erhalten. Faktisch lebte man auch in Frankreich in der Illegalität und die Gefahr der Abschiebung war stets gegenwärtig. Schließlich wurde auch Walter, da er keine gültigen Papiere vorweisen konnte, wegen Passvergehens dauerhaft aus Frankreich ausgewiesen.
Zunächst floh er in das Saarland, das bis Februar 1935 als Mandatsgebiet der Verwaltung des Völkerbundes unterstand und damit dem Zugriff der deutschen Behörden noch entzogen war. Durch Vermittlung seines Vaters war es Walter möglich, von der jüdischen Wohlfahrtsorganisation ORT die Finanzierung einer handwerklichen Ausbildung in Litauen zu erhalten. Noch vor dem 1. März 1935, als das Saargebiet nach der sog. Saarabstimmung am 13. Januar 1935 in das Deutsche Reich eingegliedert wurde, begab sich Walter über Holland nach Litauen.
Nach eigener Aussage ist mein Vater zwischen 1933 und 1935 noch einmal mit seinen Eltern zusammengekommen. Bei dieser Begegnung bat er sie eindringlich, alles zu tun, um Deutschland zu verlassen, ansonsten „würde es ihnen schlecht ergehen“. Sein Vater allerdings zog dies zur damaligen Zeit noch nicht in Betracht, da sie ja - so seine Begründung - nichts Unrechtes getan hätten und im Übrigen zu erwarten sei, dass sich Hitler und die Nationalsozialisten abwirtschaften würden. Dies war ein folgenschwerer Irrtum, der sich auf furchtbare Weise rächen sollte. Mein Vater hat seine Eltern niemals wiedergesehen. Während seine Geschwister Liesel und Hans 1938 bzw. 1939 noch in die USA emigrieren konnten, war dies für die Eltern Karl und Luise (Lilly) trotz Bemühungen um Ausreise nicht mehr möglich. Meine Großeltern wurden 1942 von Frankfurt/Main aus in das KZ Theresienstadt deportiert, wo Karl am 7. März 1943 und seine Frau Luise am 10. April 1944 zu Tode gekommen sind.
In Litauen blieb Walter bis März 1937. In Kaunas wurde er zum Maschinenschlosser ausgebildet und er legte dort auch seine Gesellenprüfung ab.
Als lnterbrigadist im Spanischen Bürgerkrieg
Die weltgeschichtlichen Entwicklungen des Jahres 1936 sollten für Walters weiteren Lebensweg von entscheidender Bedeutung werden. Am 16. Februar 1936 ging aus den spanischen Parlamentswahlen die von Sozialisten, Kommunisten und anderen linken Kräften gebildete Volksfront (Frente Popular) als Wahlsiegerin hervor. Gegen die gewählte Volksfrontregierung putschten am 17. Juli 1936 zunächst in Marokko und einen Tag später in den spanischen Provinzen reaktionäre Militärs unter Führung des Generals Francisco Franco. Damit begann der Spanische Bürgerkrieg, der bereits unmittelbar nach dem Putsch im Sommer 1936 internationale Dimensionen annahm. Deutsche und italienische Flugzeuge ermöglichten im August den Truppentransport von Spanisch-Marokko auf das Festland. Hitler und Mussolini leisteten den Putschisten umfangreiche Waffenhilfe und brachten zudem eigene Soldaten zum Einsatz. Im Oktober/November 1936 wurde zur Unterstützung der Franco-Truppen die „Legion Condor“ aufgestellt. Hinzu kam die materielle und logistische Hilfe des faschistischen Portugals. Die Volksfrontregierung wurde militärisch vor allem von der UdSSR unterstützt, deren Waffenlieferungen im Oktober 1936 einsetzten.
Im Kontext der aufkommenden internationalen Solidarität für die spanische Volksfrontregierung und wohl durch Initiative französischer Kommunisten kam es nach einem Beschluss des Exekutivkomitees der Komintern Mitte September 1936 ab Oktober desselben Jahres zur Bildung einer Freiwilligenarmee, den Internationalen Brigaden. Ausgehend von einem Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 7. August 1936 „an alle militärisch ausgebildeten Antifaschisten im Ausland, sich der spanischen Volksfront als Soldaten zur Verfügung zu stellen“ und verstärkt ab September 1936, nach dem Komintern-Beschluss, wurden auch seitens der KPD Freiwillige aus der Emigration für die Verteidigung der spanischen Republik rekrutiert und ihre Reise, über Zwischenstationen, nach Spanien organisiert. Die offizielle Linie der KPD traf sich mit den Intentionen vieler ihrer Mitglieder. Das Leben in der Emigration mit drohender Abschiebung und Schikane, die erzwungene Passivität gegenüber den politischen Ereignissen nach dem Machtantritt Hitlers und damit auch die sich nunmehr bietende Möglichkeit, in Spanien für die eigene Überzeugung aktiv etwas tun zu können, führten viele kommunistische Emigranten in die sich bildenden Internationalen Brigaden innerhalb der spanischen Volksarmee. Hinzu kam, dass der spanische Bürgerkrieg von Beginn an als ein Verteidigungskrieg der Volksfront nicht nur gegen die spanischen Putschisten, sondern auch gegen Hitler und den Faschismus verstanden wurde.
Dies alles war auch für meinen Vater ausschlaggebend, als er sich im März 1937 von Litauen über Schweden, Dänemark, Belgien und Frankreich nach Spanien begab. Sein Grenzübertritt erfolgte am 20. April 1937, und zwar zu Fuß über die Pyrenäen. Nach vorläufiger erster Unterbringung, Weiterreise und Ausbildung kam Walter bereits im Sommer 1937 in den Kämpfen bei Brunete, Quinta, Belchite und Mediana zum Einsatz. Er war Geschützführer in einer Antitank-Einheit (= Panzer-abwehr) der XI. Internationalen Brigade (Brigada Internacional) und übte die Funktion eines Politkommissars aus. Damit war er politisch dem zuständigen Kommandeur der Einheit beigeordnet, unterstand diesem allerdings in militärischen Belangen. Im Winter 1937/38 nahm Walter an der Schlacht um Teruel teil, in der er am 10. Januar 1938 verwundet wurde. Er kam in das Sanitätszentrum Murcia, von wo aus man ihn zu einer Einheits-Konferenz der deutschen Antifaschisten in Spanien delegierte. Diese Konferenz, an der 13 Kommunisten und 9 Sozialdemokraten teilnahmen, fand am 13. März 1938 in Valencia statt und war darauf gerichtet, den in Spanien er- und gelebten Einheits- und Volksfrontgedanken für eine Einheit der deutschen Antifaschisten produktiv werden zu lassen. Im Jahr 1938 erfolgte auch die „Überführung“ meines Vaters in die KP Spaniens, wie dies bei allen ausländischen Kommunisten der Fall war. Im weiteren Bürgerkriegsverlauf kämpfte er als Politkommissar in einer Artilleriegruppe der 45. (Internationalen) Division, bevor auf Beschluss der Volksfrontregierung im September 1938 alle ausländischen Freiwilligen von der Front zurückgezogen und die Internationalen Brigaden am 28. Oktober 1938 in Barcelona durch die Regierung und die Bevölkerung feierlich verabschiedet wurden. Die Interbrigadisten fasste man in Demobilisierungslagern in Katalonien zusammen.
Die deutschen und österreichischen Freiwilligen waren in Bisaura de Ter stationiert. Im Januar 1939 kam es auf Bitten der spanischen Regierung bei den Interbrigadisten noch einmal zur Neuformierung der XI. Brigade, um den Flüchtlingsstrom nach Frankreich militärisch abzusichern. Internierung in Frankreich und Nordafrika Am 9. Februar 1939 überschritt Walter im Rahmen des Rückzugs der Internationalen Brigaden die französische Pyrenäen-Grenze.
Auf französischer Seite wurden die Interbrigadisten, die Reste der spanischen Volksarmee und die zivilen Flüchtlinge von der Garde mobile in Empfang genommen. Man entwaffnete die spanischen und internationalen Kämpfer in entwürdigender Weise und brachte sie unter Bewachung in die stacheldrahtgesicherten Auffanglager Argelès-sur-Mer und Saint Cyprien an der Mittelmeerküste. Die Bedingungen in den Lagern ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Unterkünfte und zunächst auch ohne Verpflegung waren katastrophal, was auch Walter zu spüren bekam. Der deutsche Interbrigadist Herbert Grünstein schildert in seinen Memoiren die Situation im Lager unmittelbar nach Ankunft in Argelès-sur-Mer folgendermaßen: „Kinder, Kranke und Verwundete lagen auf der bloßen Erde. Es ging im wahrsten Sinne des Wortes darum, das nackte Leben zu sichern. Mit den Händen, mit Büchsen und Löffeln gruben wir Löcher in den nassen Sand, als ,Unterkünfte’. Wer noch eine Zeltplane oder eine Decke hatte, ,überdachte’ diese Höhle damit. Kälte und Nässe, Hunger und Schmerzen, rieselnder Sand und Schneeregen ließen unter diesen Umständen an Schlaf nicht denken. So verbrachten wir in den Sandlöchern, eng aneinandergeschmiegt, nur von der eigenen Körperwärme zehrend, die erste Nacht auf französischem Boden. Am Morgen darauf wurden die Toten zusammengetragen.“ Nur langsam begann sich die Situation in den folgenden Wochen durch nationalen und internationalen Druck auf die französische Regierung etwas zu verbessern.
Im April 1939 wurden alle Interbrigadisten aus den Lagern Argelès-sur-Mer und Saint Cyprien in das Aufnahmelager bei Gurs, am Fuße der Pyrenäen, verlegt. Unter den ca. 6 400 in Gurs internierten Angehörigen der Internationalen Brigaden befanden sich Mitte Juni desselben Jahres 753 Deutsche, darunter auch mein Vater. Im Lager waren die deutschen Interbrigadisten zusammen mit den Österreichern im sog. Ilot I untergebracht. Sie bildeten Kompanien und schufen - was die kommunistischen Interbrigadisten betrifft - Parteiorganisationen auf verschiedenen Ebenen sowie nationale und internationale Leitungen bzw. Gremien. In dieses System war auch Walter eingebunden, der bei den internierten Kameraden in Gurs als „Roter Postmeister“ bekannt war. Die interne straffe Organisation reflektierte zum einen das Selbstverständnis der Interbrigadisten als kämpferische Einheit mit großer politischer Kraft, hoher Moral und Disziplin, zum anderen diente sie der Durchführung kultureller und politischer Aktivitäten unter den Internierten sowie der Herstellung von Verbindungen zu kommunistischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen außerhalb des Lagers. Zugleich war sie schlichtweg ein wichtiger Teil der Überlebensstrategie, gerichtet auf die Erhaltung und Verbesserung des Lebens im Lager und zur Verhinderung von Demoralisierung und Depression.
Dies war umso bedeutsamer, als internationale Nachrichten, wie der Abschluss des Nichtangriffsvertrages zwischen der UdSSR und Deutschland vom 23. August 1939, in Anwesenheit von Stalin von den Außenministern Molotov und Ribbentrop unterzeichnet, den Glauben der deutschen Kommunisten im Lager an die Politik der Sowjetunion gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland und damit ihre eigene politische Geschlossenheit durchaus in nicht geringem Maße erschütterte. Auch mein Vater erzählte mir später, dass die Nachricht vom Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts (und zwar ohne Kenntnis des geheimen Zusatzprotokolls) viele internierte Kameraden, ihn eingeschlossen, zunächst irritierte. Das sich in den Diskussionen und Schulungen schließlich durchsetzende Bekenntnis zur Politik der UdSSR drängte bei den Internierten die eingetretene Verunsicherung zurück, sicherte die Disziplin und stellte die Moral wieder her, was nicht unwichtig war, da nunmehr auch die Kommunisten innerhalb und außerhalb des Lagers als angebliche Verbündete der Nationalsozialisten verstärkt zusätzlichen Schikanen ausgesetzt waren.
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 verschärften sich die Bedingungen weiter. Seitens der französischen Verwaltung versuchte man wiederholt, die Internierten zu einem Eintritt in die Fremdenlegion zu bewegen. Ab Frühjahr 1940 warb man zudem für einen Dienst in sog. Prestataire-Kompanien. Deren Aufgabe bestand in einem unbewaffneten militärischen Arbeitsdienst. Da sich die Interbrigadisten diesen Diensten verweigerten, erfolgte ab März 1940 die zwangsweise Rekrutierung für die Prestataire-Kompanien. Am 20. April wurden zunächst deutsche und österreichische Interbrigadisten an die belgische Grenze verbracht, um in den dortigen Kompanien den entsprechenden Dienst zu verrichten. Auch mein Vater war in eine Prestataire-Kompanie gezwungen worden. Unmittelbar im Zusammenhang mit dem deutschen Vormarsch nach Holland, Belgien und Frankreich im Mai/Juni 1940 gerieten die Prestataire-Kompanien in Auflösung. Zum Teil gerieten deren Angehörige im Zuge ihrer Evakuierung auch zwischen die Fronten, wie etwa die Einheit, in der Walter Dienst tat. Nach eigener Aussage wurden sie von ihren Bewachern einmal angesichts feindlicher deutscher Flugzeuge mit Erschießung bedroht, sollten die Flugzeuge sie angreifen. Glücklicherweise trat Letzteres nicht ein und die Gruppe wurde wieder nach Gurs verbracht.
Mit dem Sieg Deutschlands über Frankreich, dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 und dem Machtantritt Marschall Petains im Juli 1940, der mit der Teilung Frankreichs verbunden war, ergab sich für die internierten Interbrigadisten eine zusätzliche Gefahr, nämlich durch den jetzt über die Vichy-Behörden möglich gewordenen Zugriff der Gestapo auf die Lager. Sichtbar wurde dies bereits in der Zeit vom 27. Juli bis zum 30. August 1940, als die sog. Kundt-Kommission Internie-rungslager, Gefängnisse und Krankenhäuser im unbesetzten Frankreich inspizierte. Ziel dieser Kommission war es, sich ein Bild über den konkreten Aufenthaltsort von Deutschen und Österreichern in Frankreich zu verschaffen, wobei sie gleichzeitig mit Versprechungen für deren Heimkehr nach Deutschland warb. Verbunden war dies mit der Sammlung von Informationen über die frühere politische Arbeit und entsprechende Tätigkeitszusammenhänge der Internierten durch die Gestapo. Nach Artikel 19 des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrages war die französische Regierung verpflichtet, „alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen, Kolonien, Protektoratsgebieten und Mandaten befindlichen Deutschen, die von der deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern“. Damit war das Leben jedes deutschen Internierten gefährdet. Walter gehörte zu jenem Kreis von KPD-Mitgliedern, die als jüdische Kommunisten zudem in besonderer Weise die Ausweisung fürchten mussten. In der zweiten Jahreshälfte 1940 wurde mein Vater zusammen mit anderen in Gurs internierten Interbrigadisten in das Lager Argelès-sur-Mer verlegt. Von dort sollten sie im März 1941 nach Nordafrika zur Zwangsarbeit deportiert werden. Angesichts der zu erwartenden unmenschlichen Bedingungen in der Wüste Afrikas widersetzten sich die Internierten sowohl im internationalen Camp als auch in den spanischen Baracken.
Hierüber existiert ein schriftlich verfasster Augenzeugen- und Teilnehmerbericht meines Vaters, der verdeutlicht, wie groß der Widerstandswille und auch die Kampfbereitschaft der internierten Antifaschisten im Lager Argelès-sur-Mer gewesen ist. Nachdem es Polizei und Militär aufgrund von Protesten „besonders im Lager der spanischen Frauen und in den internationalen Camps“ nicht gelungen war, die internierten Spanier auf Lastkraftwagen abzutransportieren, befürchtete man, dass die Franzosen „in den nächsten Tagen mit noch größerem Militärkontingent erscheinen würden. Deshalb versetzten wir“ - so mein Vater in seinem Bericht - „unser Lager in den Verteidigungszustand. Es wurden unterirdische Gänge von einer Baracke zur anderen gegraben und u. a. an jeder Baracke Sirenen, Autohupen und alles, was wir auftreiben konnten, das viel Lärm machte, angebracht. [ ... ] Für den Fall, dass uns die Franzosen aushungern wollten, hatten schon einige Zeit vorher Genossen einige Ruderboote gebaut, die für nächtliche Streifzüge außerhalb des Lagers zur Beschaffung von Kartoffeln und anderen Feldfrüchten benutzt werden sollten. [ ... ] Das Holz zum Bau der Boote wurde aus den Baracken genommen, und zwar aus der zweiten Bretterschicht des Fußbodens. Die Boote hatten wir am Ufer im Sand eingegraben.“ Als dann Polizei und Militär erneut ins Lager kamen, Baracken umstellten „und begannen, nach Listen einzelne unserer Genossen aufzurufen“, verschwanden diese „sofort durch einen unterirdischen Gang in andere Baracken. Gleichzeitig setzten überall die Sirenen und Hupen ein. Es entstand ein Höllenlärm, der die Eindringlinge vollends verwirrte. [ ... ] Es gelang ihnen nicht, auch nur einen Genossen zu verhaften.“ Trotz eines gleichzeitig vor der Küste drohend in Stellung gebrachten Kanonenbootes war es den französischen Behörden nicht möglich, ihre mit großer militärischer Präsenz vorgetragene Aktion erfolgreich zu beenden. Allerdings wurde dann nach besagtem Bericht „einige Wochen später das gesamte Lager aufgelöst“ und „wir Deutschen kamen in die Festung Collioure (Pyrenäen) und von dort weiter nach Afrika ins La-ger Djelfa.“
Mit der Deportation der Interbrigadisten und antifaschistischen Politemigranten nach Djelfa in Nordafrika wollte sich die französische Vichy-Administration unliebsamer politischer Kräfte des Auslands entledigen. Zudem war eine Rückkehr der einmal nach Nordafrika verbrachten Internierten nicht vorgesehen; ihren Tod unter den schwierigen klimatischen Verhältnissen und den äußerst harten Lebensbedingungen im 220 km südlich von Algier am Rande der Sahara gelegenen Lager Djelfa kalkulierte man bewusst ein. Andererseits erschien den in Südfrankreich internierten Antifaschisten die Deportation, der man sich zunächst vehement widersetzt hatte, eine reale Möglichkeit zu sein, aus der Reichweite der Gestapo zu kommen. Diese sich in den Lagern durchsetzende Auffassung teilte auch mein Vater, wie er mir später im Gespräch bestätigte. Walter wurde in der zweiten Jahreshälfte 1941 zusammen mit anderen Interbrigadisten und Antifaschisten per Schiff nach Algier gebracht, von wo es dann weiter nach Djelfa und zu dem in einiger Entfernung gelegenen Lager ging. Spätestens für Ende 1941 ist seine Anwesenheit in Djelfa bezeugt.
Wie in den Lagern in Südfrankreich wurden auch in Djelfa eine internationale Lagerleitung und von den Kommunisten entsprechend den Zelt-, später Baracken-gemeinschaften Parteiorganisationen gebildet, was aber angesichts des strengen Lagerregimes in Djelfa ungleich schwerer war. Dabei stellte der Kampf ums Überleben, gegen Isolierung, Hunger, Ungeziefer, Kälte und Hitze wie auch gegen verschiedene Erkrankungen einen großen Teil des Aufgabengebietes der internen illegalen Organisation dar. Befreiung und Aufenthalt in der UdSSR Mit der anglo-amerikanischen Operation „Torch“, d. h. der Landung amerikanischer und britischer Truppen in Französisch-Nordafrika im November 1942, sollte eigentlich die Befreiung der in Djelfa Internierten unmittelbar bevorstehen, jedoch ließ die folgende, von den USA betriebene zeitweise Wiederherstellung der Vichy-Administration unter Admiral Darlan und General Giraud in Algier jegliche Hoffnung darauf zunächst wieder schwinden. Erst im Frühjahr 1943 mehrten sich die Anzeichen für eine bevorstehende Freilassung. Um jedoch geschlossen das Lager verlassen und als Gruppe zusammenbleiben zu können, war es nötig, bis auf weiteres in die britische Armee einzutreten und sich zum Dienst in deren Arbeitskompanien zu verpflichten.
Die Internierten, darunter auch mein Vater, gingen auf den entsprechenden Vorschlag der britischen Behörden ein und verließen im April 1943 Djelfa. Als Angehörige der Arbeitseinheiten kamen sie im Hafen und in der Umgebung von Algier zum Einsatz. Die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) am 12. und 13. Juli in der UdSSR, von der die ehemals in Djelfa Internierten im August Kenntnis erhielten, veranlasste sie, als „Gruppe deutscher Antifaschisten in Nordafrika und unter ihnen zahlreiche ehemalige Freiwillige der Interbrigaden“ mit Unterstützung französischer Kommunisten in der Zeitschrift Liberté (No. 8, 19. August 1943) eine zustimmende Stellungnahme zu veröffentlichen.
Mittlerweile fruchteten auch die in Angriff genommenen Bemühungen, die Reise der deutschen Interbrigadisten in die UdSSR zu erreichen. Zusammen mit 30 weiteren ehemaligen Kameraden der Internationalen Brigaden ging Walter in Philippeville (heute Sukaikida) an Bord eines Truppentransporters, der im Rahmen eines kriegsschiffgesicherten Geleitzuges am 26. November 1943 Algerien verließ. Die Reise ging per Schiff bis Suez, von wo aus sich die Gruppe nach Kairo begab. Am nächsten Tag ging es mit der Bahn nach Alexandria. Von Alexandria aus war es meinem Vater möglich, eine erste Karte in die USA an seine Verwandten zu schicken und damit ein Lebenszeichen von sich zu geben. Nach mehrtägigem Aufenthalt reiste die Gruppe wiederum mit der Bahn bis Haifa weiter, wo sie am 11. Dezember 1943 ankam.
Wohl auf dieser Route hatten einige Mitglieder der Gruppe, darunter auch mein Vater, Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde. Bei einem Zwischenhalt hatten besagte Genossen die Umgebung erkundet und wurden dabei gastfreundlich von den ansässigen Juden empfangen und bewirtet. Dabei war die jüdische Herkunft meines Vaters wie die anderer Kameraden für die Kommunikation von nicht geringer Bedeutung. Von den Gastgebern ausgestattet mit diversen Lebensmitteln, Getränken und Zigaretten, verpasste die Gruppe aber den Zug, sodass sie mit dem Auto zur nächsten Bahnstation hinterhergefahren werden musste. Dies stieß zunächst bei den übrigen Genossen wegen der offensichtlichen Disziplinlosigkeit auf wenig Verständnis, jedoch vermochten die mitgebrachten Nahrungsmittel die kritische Haltung gegenüber den verspätet eintreffenden Kameraden rasch ins Gegenteil zu verändern. Dies ist eine Episode, die mir mein Vater später mit sichtlichem Vergnügen erzählte.
Von Haifa aus fuhren die Interbrigadisten dann auf offenen Lastkraftwagen in Richtung Baghdad, das sie am 17. Dezember 1943 erreichten. Sie übernachteten und fuhren am nächsten Tag mit der Bahn nach Basra. Der Transport nach Teheran wurde von der dortigen sowjetischen Botschaft organisiert, in deren Räumlichkeiten die Gruppe dann auch kurzzeitig unterkam. Über den Hafen Bender-Schah am Kaspischen Meer erreichte sie schließlich per Schiff am 29. Dezember 1943 Krasnowodsk (heute Türkmenbasi), wo sie zunächst für einige Tage noch als Gruppe zusammenblieb.
Bereits in Krasnowodsk scheinen erste Gespräche über den zukünftigen Einsatz jedes Einzelnen im Rahmen des Kampfes gegen das nationalsozialistische Deutschland geführt worden zu sein. Eine größere Gruppe von 21 Interbrigadisten, darunter auch mein Vater, begab sich schließlich in die weitere Umgebung von Moskau bzw. nach Moskau selbst. Seitens der KPD-Führung zeigte man großes Interesse am Einsatz der Genossen im Bereich der antifaschistischen Schulung und Umerziehung unter den deutschen Kriegsgefangenen sowie im Rahmen der politischen Frontarbeit des NKFD. Ende März 1944 wurde eine Vorschlagsliste erarbeitet, aus der hervorgeht, dass Walter für einen Einsatz als „Seminarleiter für die Kriegsgefangenenschule beim Lager 165“ bei Taliza vorgesehen war. Dort nahm er dann auch die entsprechenden Aufgaben wahr, bevor er 1945/46 nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland wieder in die Heimat zurückkehrte.
Es ist dabei eine (glückliche) Ironie der Geschichte, dass die beiden Brüder Hans und Walter, deren physische Vernichtung die Nationalsozialisten vorgesehen hatten, in und mit den siegreichen Truppen der Alliierten dem NS-Regime ein Ende bereiteten und als Sieger nach Deutschland kamen: Hans als Angehöriger der US-Armee und u. a. dafür verantwortlich herauszufinden, „wer Nazi war, wer [...] politisch zuverlässig ist und wem nicht zu trauen ist“, Walter als aktiver Antifaschist zusammen mit der Roten Armee.
Wieder in Deutschland
Nach seiner Rückkehr begab sich mein Vater zunächst in seine alte Heimat und versuchte in Frankfurt/Main Fuß zu fassen. Jedoch ließen ihm die dortigen Verhältnisse nicht den politischen Spielraum, den er sich vorgestellt hatte. Zudem lebte keiner seiner Verwandten mehr im Rhein-Main-Gebiet. So ging er relativ rasch wieder zurück in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ), die nach Ankunft aus der UdSSR in Deutschland ja auch sein erster Anlaufpunkt gewesen war. Allerdings hatte der Aufenthalt in Frankfurt/Main den positiven Effekt, dass seine Geschwister in den USA nach entsprechenden Bemühungen 1947 durch „die Kommunistische Partei Deutschlands, Stelle Frankfurt a. M, seine neue Adresse in Ostdeutschland ausfindig machen und damit die Verbindung zu ihrem Bruder wiederherstellen konnten. Brieflich teilte sein Bruder Hans mit, dass er „für 2 Stunden in Ingelheim abgestiegen“ war. Dabei traf er „Herrn Hassemer, der jetzt der Chef des Arbeitsamtes in Ingelheim ist. Er sagte, dass er Dich l[ieber] Walter gern in Ingelheim sehen würde. Dort sind wahrscheinlich die meisten jüngeren Nazis während des Krieges umgekommen, und die älteren versucht Hassemer zur Arbeit heranzuziehen.“
Viele der Kameraden von Walter aus der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges, der Internierung in Frankreich und Nordafrika sowie der Tätigkeit in der Sowjetunion sahen in dem sowjetisch besetzten Teil Deutschlands ihre persönliche und politische Zukunft, was im Einklang mit den Vorstellungen der KPD- bzw. (ab 21./22. April 1946) der SED-Führung stand. Das war bei meinem Vater nicht anders.
Bevorzugte Einsatzbereiche für die ehemaligen Interbrigadisten in der SBZ und später der DDR waren die bewaffneten Schutz- und Sicherheitsorgane, wobei zunächst vor allem der Polizei eine herausragende Bedeutung zukam. Gerade hier waren der Wille und die Notwendigkeit zum Austausch alter Kräfte nach 1945 besonders groß. Zudem genossen die ehemaligen Interbrigadisten zunächst sowohl das Vertrauen der eigenen Parteiführung als auch - insbesondere im Falle der aus der UdSSR zurückgekehrten Spanienkämpfer - das der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Den Interbrigadisten waren darüber hinaus militär- und sicherheitspolitische Problemstellungen durchaus vertraut und sie galten durch ihren Lebensweg als erfahrene Genossen.
Auch Walter trat im Oktober 1947 in den Polizeidienst in Thüringen ein. In der Stadtverwaltung von Apolda war er als Polizeidirektor angestellt, bevor er im Mai 1948 als Polizeirat nach Sonneberg versetzt wurde, wo er am 29. September 1948 heiratete. Von Mai 1949 bis Juni 1950 war er Oberpolizeirat in Gera und von Juli 1950 bis Juni 1960 Angehöriger der Deutschen Volkspolizei (DVP) in Erfurt, zuletzt im Rang eines Obersts. Nach Aufhebung der Verpflichtung für den Dienst in der DVP ging mein Vater im Juni 1960 mit seine Frau und den drei Söhnen nach Berlin, wo er bis zu seiner Berentung im Jahre 1970 im zentralen Parteiapparat der SED in der Abteilung für internationale Verbindungen u. a. für die Betreuung verfolgter und in die DDR emigrierter Mitglieder verbotener kommunistischer und Arbeiter-Parteien zuständig war, so z. B. aus Griechenland, Spanien und dem Iran. In seinem Selbstverständnis als Internationalist machte er diese Arbeit gern, wusste er doch aus eigene Erfahrung nur zu gut, mit welchen (partei-) politischen und persönlichen Problemen im Exil lebende Flüchtlinge zu kämpfen hatten und wie den Emigranten außerhalb ihrer Heimat, zum Teil getrennt von ihren Familien lebend und nie wissend, ob bzw. wann man wieder zurückkehren kann, zumute war.
Am 20. Mai 1979 starb mein Vater im Alter von 73 Jahren als geachteter und geehrter Antifaschist und Spanienkämpfer. Beigesetzt wurde er auf dem Ehrenfriedhof Pergolenweg in unmittelbarer Nachbarschaft der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde.
Ingelheimer Epilog
Mein Vater lebte immer im Hier und Jetzt. Wo seine Familie - Frau und Kinder - war und wo er seine berufliche Erfüllung fand, war für ihn auch sein Zuhause. Aber trotzdem verband sich natürlich für ihn das Rheinland als seine Heimat - vor allem Ingelheim, Mainz und Bingen - mit entsprechenden Kindheits- und Jugenderinne-rungen (einschl. Mainzer Fassenacht), die er nicht missen mochte. Seine Familie - Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen - war in Gesprächen zu Hause immer präsent. Schließlich ist auch einer seiner Söhne, Autor des vorliegenden Beitrages, 1953 nach seinem Bruder Hans benannt worden. Einen direkten Kontakt in seine alte Heimat hat es aber, soweit ich weiß, lange Zeit nicht gegeben. Die Umstände der deutschen Teilung mit ihren politischen Implikationen und die fehlenden persönlichen Anknüpfungspunkte in Ingelheim und Umgebung ließen keinen Raum für entsprechende Begegnungen.
Erst 1972 bot sich für ihn als Rentner die Möglichkeit, zusammen mit meiner Mutter in die Bundesrepublik zu reisen und dabei auch Frankfurt, Mainz, Ingelheim und Bingen zu besuchen. In Bingen kam es zu einer kleinen Episode, die zeigt, dass mein Vater nach wie vor innerlich mit seiner Heimat verbunden war und worüber meine Mutter später beeindruckt berichtete: Sie saßen gemeinsam auf einer Bank an einem Platz am Rhein, den mein Vater noch sehr gut von früher her kannte. Einem langen Schweigen folgte ein „Jetzt können wir gehen“ aus dem Mund meines Vaters. Er stand auf und beide verließen den Ort ohne weiteren Kommentar. Dieses für meinen Vater eher untypische Verhalten machte meiner Mutter deutlich, dass ihr Mann soeben Abschied von seiner alten Heimat genommen hatte und dass dieser letzte Besuch für meinen Vater persönlich von großer Bedeutung war.
Der 1947 einsetzende briefliche Kontakt meines Vaters zu seiner Schwester Liesel und seinem Bruder Hans und ihren Familien dauerte bis etwa Anfang der 1950er Jahre. Dann brach er ab, was dem Kalten Krieg und den sich damit verbindenden jeweiligen innenpolitischen Begleiterscheinungen geschuldet war. Sowohl für seine Geschwister als auch für meinen Vater war es damals in ihren Positionen nicht opportun, entsprechende Kontakte über den eisernen Vorhang hinweg zu pflegen. Dass man sich jemals noch einmal sehen oder wenigstens schreiben könnte, schien so gut wie ausgeschlossen zu sein. Erst 1975 kam es hier zu einer überraschenden und für die drei Neumann-Geschwister zu einer überaus wichtigen und erfreulichen Wende. Damals stellten Hans und Liesel mit ihren Familien in einer Art Familienrat in den USA Überlegungen an, ob man nicht die Familie ihres Bruders in der DDR ausfindig machen könnte, von der sie wussten, dass sie in (Ost-)Berlin lebte. Da Verwandte von Liesels Ehemann nach Berlin reisten, wurden sie beauftragt, nach meinem Vater und seiner Familie zu suchen. Und tatsächlich, das Vorhaben, das mit einem Besuch von Liesels Anverwandten bei uns zu Hause verbunden war, hatte Erfolg. Kurz darauf reiste nun auch Liesel nach Berlin und besuchte ihren Bruder und dessen Familie in (Ost-)Berlin. Es waren sehr glückliche Momente für meinen Vater, dass er seine Schwester nun doch noch einmal sehen und sprechen konnte, und auch Liesel war glücklich, dass sie ihren Bruder Walter nach so langer Zeit wieder umarmen konnte. Die Herzlichkeit und Verbundenheit war allenthalben spürbar. Eine durch die Zeitumstände auseinandergerissene Familie, deren eigene wechselvolle, zum Teil sehr leidvolle Geschichte viel über die Entwicklungen und Veränderungen wie auch über die Brechungen und (Irr-)Wege des 20. Jahrhunderts auszusagen vermag, wurde nunmehr wieder vereint. Nach dem Besuch blieben die Kontakte weiter bestehen, und zwar über den Tod meines Vaters hinaus. Nach 1989 erfuhren sie eine Intensivierung durch entsprechende persönliche Begegnungen der Familien sowohl in den USA als auch in Deutschland, namentlich in Ingelheim während der Begegnungswochen 1998 und 2008, nunmehr unter Einschluss der Kinder und ihrer Ehefrauen sowie der Enkel der drei Geschwister."
Gs, erstmals: 08.01.14; Stand: 26.03.21