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Die evangelischen Kirchgemeinden in der Zeit des Nationalsozialismus


Autor: Hartmut Geißler
nach: Helmut Huber in: Meyer/Klausing: Freudige Gefolgschaft, S. 145-163


1. Allgemeiner Hintergrund für die Ereignisse in Ingelheim

Die Gleichschaltung der evangelischen Kirchen während der Nazizeit sollte mithilfe einer einheitlichen Reichskirche erfolgen, der sog. "Deutschen Christen", die schon 1932 gegründet worden waren. Bestrebungen zur Gründung einer solchen Reichskirche, die oft von nationalistischen und antisemitischen Einstellungen begleitet waren, lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Sommer 1933 wurde sie nun von den Nationalsozialisten geschaffen, was sich auch in ihrem Slogan zeigt: "Ein Volk! - ein Gott! - ein Reich! - eine Kirche!" (Man beachte die Reihenfolge "Volk" vor "Gott"!). Ihre Vertreter lehnten vor allem die jüdischen Wurzeln des Christentums ab und bemühten sich sogar, einen "arischen" Jesus zu konstruieren. Sie identifizierten sich völlig mit dem NS-Staat.

Am 23. Juli 1933 sollten in allen bis dahin noch bestehenden Landeskirchen Synodalwahlen stattfinden, aber nur mit einer von der NSDAP vorgegebenen Einheitsliste der "Deutschen Christen" und ihrer Sympathisanten. In Darmstadt allerdings scheiterte diese Landessynodalenwahl vorerst am Widerstand der Gegner der "Deutschen Christen".

Am 27. September wurde auf einer "Nationalsynode" in Wittenberg der Berater Hitlers in Kirchenfragen, Ludwig Müller, zum "Reichsbischof"ernannt. Müller war schon 1931 der NSDAP beigetreten und Mitbegründer sowie Landesleiter der Deutschen Christen in Ostpreußen.

Er versuchte nun die Reichskirche und ihre Glieder, die bisherigen Landeskirchen, nach dem Führerprinzip auf eine NS-konforme Linie zu bringen, auch durch Überwachung des Gemeindelebens und der Pfarrer, von denen einige entlassen wurden.

Im Volksstaat Hessen wurden deshalb auf Druck der NSDAP die drei bis dahin selbständigen Landeskirchen von Nassau, Hessen und Frankfurt zu einer einzigen Landeskirche "Nassau-Hessen" vereinigt, an deren Spitze Anfang 1934 Dr. Ernst Ludwig Dietrich von Reichsbischof Müller als neuer Landesbischof gesetzt wurde, gegen den Willen der Mehrheit der Synodalen, die sich nicht dem Führerprinzip (statt demokratischer Wahlen) unterwerfen wollten.

Weniger aus politischen Gründen als vielmehr wegen theologischer Bedenken gegen das nationalistisch-antisemitische Christentum der "Deutschen Christen" hatte sich seit September 1933, zuerst in Berlin, u. a. mit Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, eine informelle Gegenbewegung bilden können - ein im totalitären NS-Staat singulärer Vorgang! Sie nannte sich zuerst "Pfarrernotbund" und seit der Bekenntnissynode von Barmen (Ortsteil Wuppertals) im Mai 1934 "Bekennende Kirche".

Auch in Nassau-Hessen bildete sich ein solcher Pfarrernotbund unter der Leitung eines "Landesbruderrates".

Damit standen nun die Kirchgemeinden in den damals noch selbständigen Orten Nieder- und Ober-Ingelheim sowie in Frei-Weinheim, das kirchlich von Ober-Ingelheim mit betreut wurde, und ihre Pfarrer vor der komplizierten Situation, welcher Richtung sie sich anschließen wollten bzw. konnten.


Helmut Huber hat in seinem Beitrag "Zwischen Kreuz und Hakenkreuz" den schwierigen Versuch unternommen, die Geschichte der drei evangelischen Gemeinden während der Nazizeit nachzuzeichnen, wobei ihm durch die schlechte Quellenlage enge Grenzen gesetzt waren, denn offenbar seien im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau in Darmstadt gezielt Akten jener Epoche vernichtet worden. Einige wenige Archivalien existieren noch im Ingelheimer Stadtarchiv, und von Nieder-Ingelheim haben sich ein Protokollbuch und eine Gemeindechronik erhalten, die vom dortigen Pfarrer geführt wurden, aber sonstige Unterlagen gibt es kaum mehr.


2. Nieder-Ingelheim

Pfarrer in Nieder-Ingelheim war (ohne Unterbrechung) von 1928 bis 1957 Otto Brandau, den Huber nach der denunzierenden Einschätzung des Mainzer Dekans Hans Schilling, die er u. a. für den Personalreferenten der SS in Mainz machte (Huber, S. 166), der Bekennenden Kirche zuordnet.

Zum Wortlaut

Einige Mitglieder der Nieder-Ingelheimer Gemeinde waren in der Bekennenden Kirche tätig, und zwar im "Kreisbruderrat" Rheinhessens:

- Ernst Emmerling
- Albrecht Bötticher
- August Fries


Auch in den Ingelheimer Gemeinden fanden am 23. Juli 1933 Wahlen zu einem neuen Kirchenvorstand statt, jeweils mit den vorgeschriebenen Einheitslisten. Die gewählten Mitglieder wurden auf die Verfassung der Reichskirche vereinigt. Insoweit waren nun auch die Ingelheimer Kirchgemeinden "gleichgeschaltet".

In den folgenden Monaten des Jahres 1933, in denen Hitler (vorübergehend) ein gutes Verhältnis zu der evangelischen Kirche suchte, stieg die Zahl der Gottesdienstbesucher stark an, so dass mancher Kirchenmann sich Hoffnungen auf eine Rechristianisierung der Gesellschaft machen konnte. Denn nun besuchten ganze Gruppen von uniformierten SA-Männern, von NS-Frauenschaft und NS-Jugendverbände die Gottesdienste. Auch andere Feste, so das Erntedankfest, wurden gemeinsam mit NS-Verbänden begangen. Dass dahinter aber kein religiöses Bedürfnis, sondern eine zentrale politische Steuerung steckte, zeigt die Tatsache, dass diese Tendenzen 1934 wieder stark nachließen.

Auch wenn die Reichskirche und Vertreter des Evangelischen Bundes ihre Vorstellungen wiederholt in Vorträgen darstellten, "betonte Pfarrer Brandau, dass der Kirchenstreit in der Nieder-Ingelheimer Gemeinde keine große Bedeutung gewann" (Huber, S. 153). Huber fügt hinzu, dass dies "laut vorliegender Quellenlage ... auch für die anderen Kirchengemeinden zu gelten" scheint.

Einige Titel der Vorträge, in denen sich einerseits der Versuch der NS-gesteuerten Reichskirche widerspiegelt, ihre rassistische Ideologie mit dem Christentum in Einklang zu bringen, und andererseits die Gewissensnot der "bekennenden" Christen damit:

- Die Judenfrage im Lichte des Evangeliums
- Ist das Christentum eine dem Deutschen artgemäße Religion?
- Hat das A[lte] T[estament] noch Bedeutung für den Christen?
- Was ist positives Christentum?
- Deutschglaube oder Christusglaube?

Hubers folgender Bericht gibt zugleich einen Einblick in die sehr lückenhafte Quellenlage:

„Ganz unberührt vom Kirchenstreit blieb die Gemeinde aber nicht. Ein führendes Mitglied der Bekennenden Kirche, Pfarrer Karl Amborn aus Horrweiler, bot an, über die Situation der Kirche aus Sicht der Bekennenden Kirche zu referieren. Amborn war aufgrund seiner Tätigkeiten für die Bekennende Kirche vom Landesbischof nach Horrweiler strafversetzt worden. Ob es zu der geplanten Veranstaltung kam, lässt sich nicht mehr klären. Eindringlich bat er Brandau um ein Eintreten zugunsten der Bekennende Kirche: "Um unsere[r] Kirche willen und damit um der uns von Gott auferlegten Aufgabe willen bitte ich Sie darum herzlich, sich und ihre Gemeinde in die Kampffront der Bekennenden Kirche zu stellen." Dabei verstand er die Aufforderung als einen "Alarmruf, zu dem ich mich um Christi willen, um der Gemeinden willen und um der verhafteten Brüder willen [Hervorh. d. Autors] gedrungen fühle."43 Auch in diesem Fall existieren keine weiteren Quellen, die über die Reaktion Brandaus Auskunft geben könnten.

Anm. 43: Brief des Pfarrers Amborn vom 22. März 1935 aus dem Nachlass Pfarrer Otto Brandau. Dieser Brief ging auch an die Kirchengemeinde Ober-Ingelheim. Auch von dieser Seite ist keine Reaktion belegt.“

Es gab also Strafversetzungen, und mancher sah sich in einer "Kampffront" für die "uns von Gott auferlegte Aufgabe."


3. Ober-Ingelheim

Im Stadtarchiv hat sich ein Wahlvorschlag der NSDAP (!) für die Kirchenvorstandswahlen 1933 in Ober-Ingelheim erhalten (siehe unten). Nichts zeigt deutlicher, wie die NSDAP auch die Kirche unter ihre Kontrolle zu bringen versuchte. Dennoch wurden überwiegend andere Personen gewählt, denn das am 7. August 1933 in der Ingelheimer Zeitung veröffentlichte Wahlergebnis nennt folgende Namen, von denen nur zwei auf der NSDAP-Liste vorgeschlagen worden waren:

- Heinrich Rauth (Wegeaufseher)
- Jakob Friedrich Freund (Weinhändler)
- Johann Esch (Weinhändler)
- Jakob Dieffenbach (Landwirt)
- Heinrich Weitzel III, (Landwirt)
- Johann Wasem II. (Landwirt)
- Wilhelm Müller (Notar)
- Wilhelm Bauer (Altbürgermeister)

"Obgleich das Kirchenvorstandsmitglied Wilhelm Müller Einspruch gegen die Wahl erhob, ergaben die Nachprüfungen des Dekanats Mainz keine formalen Fehler; die Entscheidung war somit wirksam" (Huber, S. 156), entgegen der Absicht der NSDAP!


Pfarrer in Ober-Ingelheim war Hugo Scharmann (Pfarrer von 1910 - 1951). Ihm darf man wohl eine deutsch-nationale Gesinnung unterstellen, was u. a. seine aktive Unterstützung des Baues des Bismarckturmes in Ober-Ingelheim zeigt, der besonders durch den nationalistischen und antisemitischen Alldeutschen Verband gefördert wurde: Scharmann war jahrelang Vorsitzender des Ingelheimer Bismarckvereins.

So erscheint es auch folgerichtig, dass Pfarrer Scharmann im August 1933 der "Glaubensbewegung Deutsche Christen" beitrat. Sein Mitgliedsausweis hat sich im Archiv der Evangelischen Kirchengemeinde in Ober-Ingelheim erhalten:

Huber betont jedoch (S. 157):

"Aber es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, die auf ein besonderes Engagement Scharmanns im Rahmen der Bewegung deuten. Zwar existierte eine Gruppe der Deutschen Christen in Ober-Ingelheim, die allem Anschein nach auch für Nieder-Ingelheim zuständig war, zumindest war sie darum bemüht, auch in der Nachbargemeinde Anhänger für sich zu gewinnen. Doch es gestaltete sich schwierig, überhaupt genügend Mitglieder anzuwerben."

Und er fährt fort:

"Am 16. August 1933 sollte der Leiter des Gaues Hessen der Glaubensbewegung Deutsche Christen, Knab, deshalb die Ziele der Deutschen Christen vorstellen, um die Ingelheimer für die eigene Sache zu gewinnen. Die Teilnahme war dabei keineswegs nur freiwillig, für die Mitglieder des evangelischen Frauenvereins, der Kirchengemeindevertretungen und der Kirchenvorstände wurde vollzähliges Erscheinen angeordnet. Die Leitung der lokalen Gruppe der Deutschen Christen hatte der Lehrer Heinz Gimbel inne, der zweitweise als Mitglied des Nieder- Ingelheimer Kirchenvorstandes agierte. Auch die NSDAP-Ortsgruppe unterstützte die Werbekampagne zugunsten der Bewegung. So ließ die NSDAP verlauten, dass zu der Veranstaltung alle Parteimitglieder, der NS-Lehrerbund, SA, SS, Frauenschaft, der Bund deutscher Mädel (B.d.M.) und die HJ in Uniform zu erscheinen und in Uniform an der Kundgebung teilzunehmen hätten.

Und wie in Nieder-Ingelheim, so wurden auch die Gottesdienste in Ober-Ingelheim im Jahr 1933 durch den Besuch von NS-Organisationen unterstützt. Bei dieser Gelegenheit wurde auch in der Ober-Ingelheimer Gemeinde ein einschlägiger deutsch-christlicher Gottesdienst gefeiert. In diesem Zusammenhang wurde noch einmal der Anspruch der Deutschen Christen verdeutlicht, die kirchlichen Strukturen und selbst die christliche Theologie mittels nationalsozialistischen Gedankenguts zu durchdringen."


4. Frei-Weinheim

Von der Geschichte der kleinen evangelischen Gemeinde im überwiegend katholischen Frei-Weinheim, einer Filialgemeinde von Ober-Ingelheim, gibt es nur das Wahlergebnis zur Gemeinderatswahl von 1933 aus der Ingelheimer Zeitung zu melden:

- Hermann Bopp (Fabrikant)
- Heinrich Molter (Strommeister)
- Heinrich Stark (Fabrikbesitzer)
- Dr. Emil Zimmer (Chemiker)
- Heinrich Vollstaedt
- Julius Schramm (Lehrer)

Weitere Unterlagen hat Helmut Hubert nicht ausfindig machen können.


5. Schluss

Unter der Frage "Kirchenkampf in Ingelheim?" fasst Huber seine Eindrücke zusammen und stellt fest (S. 160):

"Im Kirchenkampf spielten die Ingelheimer Gemeinden nur eine sehr untergeordnete Rolle. Zwar lassen die Quellen den Schluss zu, dass Brandau der Bekennenden Kirche nahe stand und Scharmann deutsch-christliches Mitglied war. Aber es existierte wohl weder in Nieder-Ingelheim eine Fraktion der Bekennenden Kirche noch in Ober-Ingelheim eine der Deutschen Christen, im Sinne einer eigenständigen, lokalen Vereinigung. So lassen sich kaum Hinweise für ein besonders großes Engagement oder feste Organisationsstrukturen der beiden Gruppen finden. Die vereinzelten Vortragsabende deuten zwar darauf hin, dass die Themen der kirchlichen Auseinandersetzung auch in den Ingelheimer Gemeinden diskutiert wurden, aber ernsthafte Konflikte zwischen den Mitgliedern beider Fraktionen lassen sich nicht belegen. Das ist wohl größtenteils dem Verhalten der beiden Pfarrer Brandau und Scharmann geschuldet, die sich sehr vorsichtig mit der Bekennende Kirche und den Deutsche Christen identifizierten."


Zur Rede des nationalsozialistischen Landesbischofs Dr. Dietrich am 8. Dezember 1934 in Ober-Ingelheim - hier

 

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Gs, erstmals: 24.04.12; Stand: 06.12.20