Studienrat Karl Balser - Lehrer an der „Höheren Bürgerschule“ zu Ober-Ingelheim vom 1. Mai 1923 bis 11. März 1933


Autor: Hartmut Geißler
unter Verwendung von Auszügen aus dem Aufsatz von Frolinde Balser (Tochter von Karl Balser) in "100 Jahre Sebastian-Münster-Gymnasium Ingelheim" Ingelheim, 1990, und
Harth-Meyer, Petra, in: Freudige Gefolgschaft, 2011, S. 585-596


Vorwort:

Seit 1923 war Karl Balser Lehrer an der höheren Bürgerschule in Ober-Ingelheim, und zwar als "Assessor" und "Studienrat". Außerdem engagierte er sich in der Deutschen Friedensgesellschaft (Vortrag 17.10.1925) und der DDP (später „Radikaldemokraten“) sowie dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das er in Ingelheim mit gründete und dessen Vorsitzender er 1931 wurde.

Er verkörperte vieles, was die Nationalsozialisten bekämpften, den Typ eines vielseitig interessierten, weltoffenen und nicht unbegüterten Bildungsbürgers, der Frankreich kannte, als überzeugter Pazifist für eine deutsche-französische Aussöhnung und den Frieden in Europa eintrat und oft Gäste aus dem Ausland beherbergte.

Schon vor 1933 hatte er vergeblich versucht, sich mit anderen gegen den anschwellenden Nationalsozialismus zu wehren. Zur Machtergreifung und Gleichschaltung, auch im Bildungswesen, gehörte daher, dass Menschen wie er baldmöglichst aus dem Schuldienst entfernt wurden. Seit dem 8. März 1933, kurz nachdem die hessischen Nationalsozialisten in einem Staatsstreich auch die Macht in Darmstadt übernommen hatten, wurde Karl Balser am weiteren Unterrichten gehindert. Den Ton in den Ingelheimer (Volks-) Schulen gaben nun NS-Lehrer an, die zugleich in der SA waren.


Über ihren Vater schrieb Frolinde Balser:

„Karl Balser entstammte einer gänzlich unliterarischen Bauernfamilie in Steinbach bei Gießen (heute Fernwald-Steinbach). Er verlor beide Eltern, noch bevor er in die Schule kam. Als aufgewecktes Bübchen fiel er dem Dorfschullehrer bald auf und wurde schon nach der dritten Klasse auf den mühsamen Weg nach Gießen ins Realgymnasium geschickt. Dort, und besonders durch die Wandervogelbewegung vor dem ersten Weltkrieg, durch Universitätsstudium in Gießen, Tübingen, Paris (1910/11) und wieder Gießen, ist seine Bildung, seine Offenheit und Weitläufigkeit, sein pädagogisches und künstlerisches Einfühlungsvermögen geprägt worden. Wie viele seiner Freunde aus der Jugendbewegung ist er Lehrer geworden, um auch vielen und besonders jungen Menschen diese Welt des Verständnisses und der internationalen Verständigung zu eröffnen...

Am 12. 3.1933 meldete eine Zeitung für Ober-Ingelheim:

„In unserer gestrigen Ausgabe berichteten wir von der Dienstenthebung des Herrn Studienrat Balser. Es ist uns insofern ein Irrtum unterlaufen, als die Dienstenthebung nicht durch SA, sondern durch SS erfolgte. Als Grund der Dienstenthebung wurde dem Herrn Studienrat Balser von dem diensthabenden SS-Mann mitgeteilt, daß von jetzt ab in den deutschen Schulen für pazifistische Vaterlandsverräter kein Platz mehr sei.“

In der Ausgabe vom Tag zuvor war berichtet worden, daß am 11. März („heute früh“) um 1/2 8 Uhr „SA-Mitglieder der NSDAP“ den Eingang zur Höheren Bürgerschule bewacht hätten, um dem Studienrat Balser „den Zutritt zur Schule und den weiteren Unterricht zu verbieten“.

Bezeichnend für die zu diesem Zeitpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland (noch) unterschiedlichen Verhaltensweisen von staatlicher Polizei und Parteiorganisationen ist das folgende: Studienrat Balser holte Polizei zur Hilfe, um zu seinem Unterricht zu gelangen („nochmalige Vorsprache in polizeilicher Begleitung“). Aber auch dies nützte nichts, Begründung: „da er sich sehr stark immer für den pazifistischen Gedanken ausgesprochen hat und auch in Versammlungen in diesem Sinne propagierte.“

Was an diesem Tag, dem 11. März 1933, noch geschah, schildere ich als Tochter, damals freilich erst 8 1/2 Jahre alt und von den Vorgängen am Vormittag gänzlich ohne Ahnung. Aber es ist mir sehr wohl in Erinnerung - und für die Nachwelt nicht ohne Interesse - , wie sich im einzelnen abspielte, was zur nationalsozialistischen Machtabsicherung gehörte und vielerorts in diesen Tagen in ähnlicher Weise vor sich ging. Dazu gehörten natürlich auch Helfer, Denunzianten erst und dann Ausführende.

Wir wohnten in dem schönen alten Anwesen in Ober-Ingelheim, Stiegelgasse 48, in dem ganzen großen Haus. Im 19. Jahrhundert, in der Vormärzzeit, hatte dort der Gerichtspräsident Martin Mohr gewohnt, der 1833 als Demokrat sein Amt verlor - Parallelen der deutschen Geschichte. Nach 1945 hat übrigens unser heutiger Bundespräsident Richard von Weizsäcker im gleichen Haus eine Wohnung mit seiner jungen Familie inne gehabt. - Wir, das waren meine Eltern und ich, meine Großmutter mit ihrer anderen Tochter und deren beiden Söhnen, Hartmut und Otfried Schmidt, die beide auch in die Ingelheimer Höhere Bürgerschule gingen. (Ottfried Schmidt ist als Jagdflieger am 8. März 1944 gefallen). Es war also eine große Familie und es gab viele Zeugen für die Vorgänge am 11. März 1933, zumal meistens auch noch Pensionäre in dem großen Haus mitwohnten.

An jenem trüben Frühlingstag spielte ich im Garten um die Pfeifenstrauchlaube vor dem Haus, als ein Auto die breite Straße im Garten entlang kam und drei Männer ausstiegen. Sie hatten keine Uniform an, gingen auf das Haus zu und rammelten an der Haustür in der Laube. Die war aber im Winter immer fest verschlossen. Das erklärte ich ihnen und sagte, sie müßten ums Haus herum zur anderen Tür gehen. - Nach einer kurzen Weile fuhren diese Männer mit meinem Vater im Auto davon. Später hat mir mein Vetter Hartmut erzählt, daß der eine mit vorgehaltener Pistole meinen Vater gezwungen hatte mitzukommen und ein anderer hatte die Telefonleitung herausgerissen.

Deswegen lief meine Mutter sofort zu Nachbarn, es war die jüdische Familie Haas, die an der Ecke Stiegelgasse wohnte, um mit Freunden aus der Friedensgesellschaft (Philipp Glück und anderen) zu telefonieren, die ihr auch halfen. So gelang es zu erfahren, wohin Karl Balser transportiert worden war: nach Osthofen in das gerade eingerichtete Konzentrationslager für Südhessen bei Worms... Meine politisch nicht so sehr engagierte und eher schüchterne Mutter brachte es fertig, mit Hilfe des Mainzer Polizeipräsidenten, den sie kannte und der durchaus kein Nazi war, meinen Vater nach etwa 14 Tagen, in denen es genug an Mißhandlungen gegeben hatte, aus dem KZ Osthofen herauszuholen.

[Hier irrt Frolinde Balser, denn nach den Forschungsergebnissen von Harth-Meyer war ihr Vater nicht im provisorischen KZ Osthofen inhaftiert, sondern acht Tage lang im Darmstädter Polizeigefängnis und stand danach unter Hausarrest in Darmstadt. Nach seiner Freilassung durfte er nicht mehr unterrichten. Gs]

... Nach Ingelheim ist er vor 1945 niemals wieder zurückgekommen.

Unsere kleine Familie zog nach Heidelberg, wo Freunde aus der Gießener Studentenzeit lebten und weil im Badischen die Naziherrschaft erträglicher gewesen ist als im Volksstaat Hessen unter dem Gauleiter Sprenger... Obgleich mein Vater als Kriegsfreiwilliger von August 1914, langjähriger Frontsoldat mit vielen Verwundungen nach einer Bestimmung dieses Gesetzes an sich nicht hätte entlassen werden können, erfolgte mit Datum 26. Juni 1933 die Entlassung aus dem Hessischen Staatsdienst zum 1. Juli 1933, „im Namen des Reichs“ unterschrieben vom Reichsstatthalter in Hessen, Sprenger. Die sehr reduzierte Pension war m. W. auf 200,- Reichsmark festgesetzt, wovon man natürlich nicht leben konnte.

Deshalb wurden mit Hilfe von Freunden ein und später mehrere Pensionäre aufgenommen und - nach NS-Gesichtspunkten „unbeschulbare“ Kinder von meinem Vater unterrichtet, denen durchaus Wissen und Lebensfreude zu vermitteln war. An Diskriminierungen wegen des so früh im Ruhestand befindlichen Vaters - also eines ausgewiesenen Nicht-Nationalsozialisten - kann ich mich sehr wohl erinnern.

Es hatte eben vor 1933 an überzeugten Demokraten gefehlt, um die Republik rechtzeitig zu verteidigen. Mein Vater jedenfalls hatte zu diesen wenigen gehört. Der Studienrat Balser hat in Ingelheim durch Worte und auch Taten (Reichsbanner), durch sein Bemühen im Unterricht den Schülern Wertvorstellungen beizubringen, die international gültig sind, dazu beigetragen.

Schüler haben ihm das gedankt, nicht zuletzt emigrierte Schüler und Freunde durch Care-Pakete nach 1945. Im April 1945, bald nach der Besetzung Heidelbergs durch amerikanische Truppen, kam eines Tages ein amerikanischer Soldat trotz aller Nonfraternization in voller Uniform ins Haus und hinterließ höchst willkommene Lebensmittelgeschenke; dies war Joseph Löwensberg aus Ingelheim, dann Kaufmann in New York, der sich noch sehr wohl daran erinnerte, wie der Studienrat Karl Balser vor falschen Verherrlichungen, etwa des VDA (Verein für das Deutschtum im Ausland), dem Löwensberg selbst beigetreten war, gewarnt hatte.

In Heidelberg hat er bis zu seinem Tode (8. 10. 1976) zu denjenigen gehört, die den Geist dieser lebendigen Stadt in der Nachkriegszeit prägen halfen, durch Mitarbeit in der Friedensgesellschaft, zu deren Vorstand auf Bundesebene er einige Jahre auch zählte, durch Vorträge in der Volkshochschule, durch Gründung der Goethe-Gesellschaft, mit Zeitungsartikeln und in einem großen Freundeskreis. Nach 1945 baute er zusammen mit Professor Reinhard Buchwald die Lehrerbildung auf - zum Beispiel gehörte Hans Haber, der später so bekannte Fernseh-Autor - zu den ersten Absolventen der verkürzten Lehrerkurse, die dann aber bald ins alte - oder ins geordnete Fahrwasser überführt worden sind.

Karl Balser war dann als Studienrat noch gut ein Dutzend Jahre am Hölderlin-Gymnasium für Mädchen in Heidelberg - recht gerne - und weniger gerne am Tulla-Gymnasium in Mannheim tätig.

Sein Engagement für im Abitur gefährdete Schülerinnen brachte ihm nicht nur Wohlwollen ein. So ging er gerne und so früh als möglich in den Ruhestand und begann einen neuen und wiederum ergebnisreichen Lebensabschnitt. Tatkräftig unterstützt von seiner unermüdlich korrekturlesenden Frau wurden Klassikerausgaben bearbeitet (Shakespeare, Lessing, Romantiker und französische Erzähler, alle im Standard-Verlag Hamburg, einer früheren Buchgemeinschaft); Übersetzungen standen an und viele Reisen, besonders in das geliebte Frankreich. Die Lessing-Ausgabe erschien auch in der DDR. Dorthin pflegte er möglichst Kontakte, besonders auch durch die Goethe-Gesellschaft in Weimar.“

Nach dem Krieg wurde er als Opfer des Faschismus anerkannt und bekam die ihm entgangenen zwei Drittel seines Gehaltes nachgezahlt.

Seine Bewerbung auf die Stelle des Schulleiters an seiner ehemaligen Ingelheimer Schule wurde abgelehnt, ohne dass zu ermitteln war, weshalb.


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Gs, erstmals: 24.01.12; Stand: 06.12.20