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Der Untergang der israelitischen Gemeinde von Ingelheim in der Nazizeit


Autor: Hartmut Geißler
nach: Meyer/Mentgen, Sie sind mitten unter uns (ausführlich)
und Meyer/Klausing, Gefolgschaft (knapper, aktualisiert)
und Müller 2020, Novemberpogrome (mit vielen, auch neuen Details)

und auf die Familie Boehringer bezogen Kißener 2015


a) Einleitung

Die folgende Darstellung der systematischen gesellschaftlichen Ausgrenzung der Ingelheimer jüdischer Abstammung in der Nazizeit, ihrer wirtschaftlichen Enteignung, ihrer Verfolgung bis hin zur Vertreibung und schließlich der Verschleppung und Ermordung der letzten hier Gebliebenen folgt einerseits dem Standardwerk "Sie sind mitten unter uns" und dem kürzeren und aktualisierten Beitrag im Sammelband "Freudige Gefolgschaft und bedingungslose Einordnung ...?", beides aus der Feder von Hans-Georg Meyer.

Es ist zugleich die Fortsetzung der Themenseite über die allgemeine Geschichte der Juden in Ingelheim.

 

b) Die Integration der Ingelheimer Juden in der Vor-Nazizeit

Meyer beschreibt das "wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Engagement der Ingelheimer Juden" in der Zeit vor der Machtergreifung der Nazis (Gefolgschaft S. 423-5):

„Während auf Reichsebene antisemitische Töne immer deutlicher zu vernehmen waren, schien in den Ingelheimer Gemeinden die gesellschaftliche Integration der Juden bis in die 1920er Jahre weitgehend gelungen. Immerhin lassen sich bis 1933 keine größeren Hinweise auf antisemitisch motivierte Übergriffe finden.

Die Ingelheimer Juden betrieben vor allem Vieh- und Weinhandel, betätigten sich als Ackerbauern, waren Geschäftsinhaber von Krämer- und Ellenwarenläden, Hutmacher, Kohlenhändler und Metzger. Zudem existierten zwei jüdische Tabakhandlungen in Ingelheim...

Die Ingelheimer Juden waren in ihrer Mehrheit politisch nationalliberal eingestellt und gehörten der liberalen israelitischen Gemeinde an.

Sie waren weitgehend in die Ingelheimer Gesellschaft integriert, was sich anhand ihrer Teilhabe am Vereinsleben belegen lässt. Bereits 1859 war Ferdinand Mayer aus Ober-Ingelheim, der spätere Branddirektor der Feuerwehr und Kreisfeuerwehrinspektor, Gründungs- und Vorstandsmitglied der Schützengesellschaft Ober-Ingelheim. Die Juden in Nieder- und Ober-Ingelheim engagierten sich in den Turn- , Gesangs- und Karnevalsvereinen, dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), dem Historischen Verein, dem Volksbildungsverein, dem Ruderverein und dem Stenografenverein Stolze-Schrey. Ludwig Greif, ein gesellschaftlich und politisch sehr engagierter Ober-Ingelheimer Jude, war Gründungs- und Vorstandsmitglied des freien Gesangvereins „Volkschor" Ober-Ingelheim. Zugleich waren Ingelheimer Juden in den sozial ausgerichteten Verbänden, wie den freiwilligen Sanitätskolonnen (heute Rotes Kreuz) beider Orte und der Feuerwehr zu finden. Der Kaufmann Alfred Mayer aus Nieder-Ingelheim wurde 1921 in den Vorstand der Spar- und Darlehenskasse Nieder-Ingelheim gewählt. Karl Neumann, Weinhändler aus Ober-Ingelheim, wurde in der Hauptversammlung des Weinhändlerverbandes von Bingen und Umgebung in den Vorstand des Verbandes gewählt. Im Alice-Frauenverein Ober-Ingelheim waren im Vorstand die jüdischen Frauen Thekla Eisemann und Rosa Nathan vertreten.

Die jüdischen Bürger arbeiteten in politischen Parteien mit, trugen sich in die Wählerlisten ein und kandidierten bei Wahlen...“

Der bedeutendste jüdische Verein in Ingelheim war nach Meyer (Gefolgschaft S. 432-4) der "Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV)". Seine Mitglieder waren "hauptsächlich assimilierte, deutsch-nationale Juden".

„Im Oktober 1924 fand in Ober-Ingelheim eine Versammlung mit circa 50 Teilnehmern statt, die sich mit der „Zionistendebatte“ auseinandersetzte. Es referierte Alfred Haas aus Mainz. Dabei wurde offenbar engagiert über die zionistische Idee diskutiert, dennoch kam man zu dem Schluss: „Kein einziger ausser Haas [war; Hinzuf. d. Autors] Anhänger [der zionistischen Idee; Hinzuf. d. Autors]. Ausklang Demonstratives Bekenntnis zum deutschen Vaterland.“ (Gefolgschaft S. 434)

 

Zu den  jüdischen Gewerbetreibenden in Nieder- und Ober-Ingelheim 1909 bzw. 1911


c) Ab 1933 Ausgrenzung und Verdrängung von Juden in Ingelheim

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde deren antisemitisches Verfolgungs-Programm, das die Juden aus Deutschland hinausdrängen sollte, alsbald mit zentraler Steuerung in die Tat umgesetzt. Das hatte auch Auswirkungen in Ingelheim:

Im März 1933 wurde für Hessen ein Schächtungsverbot erlassen, im April wurden auch in Ingelheim jüdische Beamte entlassen (aufgrund des "Gesetztes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"). Siehe Langstädter

Der Boykott jüdischer Geschäfte, der für den Samstag, den 1. April, im ganzen Reich festgelegt worden war, also an einem Schabbat, an dem sowieso viele jüdischen Geschäfte geschlossen hatten, wurde auch in Ingelheim von der NSDAP organisiert; aber (Gefolgschaft S. 441):

"In Ingelheim scheint der Tag relativ ruhig verlaufen zu sein, verschiedene Geschäfte hatten ab 10 Uhr geschlossen.

Dennoch muss es auch hier zu Hetzkampagnen gekommen sein, die in antisemitischen Plakaten und Parolen ihren Ausdruck fanden. Der freie Zutritt zu jüdischen Geschäften war durch Blockaden der SA versperrt. In der Ingelheimer Zeitung vom 1. April 1933 war die „Anordnung Nr. 5 des Zentralkomitees zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“ abgedruckt.

Scheinbar fiel die antisemitische Propaganda des Regimes in Ingelheim auf fruchtbaren Boden, denn vom 27. August bis zum 2. Oktober 1933 wurde eine Reihe von jüdischen Gebäuden beschädigt. Mehrmals wurde auf in jüdischem Besitz befindliche Wohnungen und Häuser geschossen, Rollläden, Türen und Fenster eingetreten oder eingeschlagen, jüdische Geschäfte besetzt und den Inhabern damit gedroht, sie kämen ins Konzentrationslager nach Osthofen. Die Polizei hielt sich zurück, teilweise versammelten sich Schaulustige an den Orten der Ausschreitungen."

Wie "fruchtbar" der Ingelheimer Boden für Antisemitismus wirklich war, kann man freilich diesen von der NS-Presse gesteuerten Meldungen kaum entnehmen.

In der Folgezeit wurden von den nunmehr NS-dominierten bzw. dann ausschließlich NS-besetzten Gemeinderäten weitere diskriminierende Beschlüsse gefasst, deren Inhalte und Formulierungen von der NSDAP vorgegeben wurden. Meyer zitiert aus einem erhaltenen Protokoll des Frei-Weinheimer Gemeinderates (Gefolgschaft S. 443):

"Maßnahmen zur Abwehr gegen jüdischen Einfluß

Die seitens der N.S.D.A.P. angegebenen Reg[el]ungen zur Abwehr jüdischen Einflußes finden für die hiesige Gemeinde in dem Erlass folgender Bestimmungen Anwendung.

1.) Der Zuzug von Juden nach der Gemeinde Frei-Weinheim wird nicht gestattet.
2.) Die Benutzung und Nutzung gemeindlicher Einrichtungen ist für Juden verboten.
3.) Gewerbetreibende die mit Juden Geschäfte machen werden von Gemeindelieferungen ausgeschlossen.
4.) Empfänger gemeindlicher Unterstützungen, welche beim Juden kaufen, wird die Weiterzahlung der Unterstützung gesperrt.
5.) Gemeindebeamte, Angestellte u. Arbeiter welche beim Juden kaufen gehen ihrer Stellung verlustig.
6.) Der Besuch unseres Ortes von Juden ist unerwünscht und wird durch Aushang von Schildern zur Kenntnis gebracht."

Ab 1934 hing ein Schild mit Hakenkreuz am Freibad in Frei-Weinheim, "auf dem zu lesen war, dass Juden der Zutritt verwehrt" sei (Gefolgschaft S. 443).


Einen ähnlichen Verlauf nahm die zentral gesteuerte Diskriminierung und Verdrängung von Juden aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben auch in den beiden Ingelheim, von denen aber nur bruchstückhafte schriftliche Belege erhalten sind.

Einige Beispiele aus Meyer, Gefolgschaft S. 444:

„Bereits 1934 waren dem „Halbjuden“ Wilhelm Roth von SA-Männern Schläge angedroht worden für den Fall, dass er es wagen sollte, anlässlich des „Führer-Geburtstags am 20. April 1934 im Rahmen der Feierlichkeiten in der Turnhalle im Orchester mitzuspielen. Er verlor seiner Arbeitsstelle bei der Sparkasse, kam zum Westwall und wurde später von der Firma Boehringer zur Arbeit herangezogen.

Der örtliche Wiegemeister August Simon wurde in einem Schreiben des Ober-Ingelheimer Bürgermeisters vom 6. August 1935 dazu angehalten, dafür Sorge zu tragen, dass in Zukunft auf der Waage der Gemeinde keinerlei Verwiegungen auf Kosten der Juden mehr vorgenommen würden.

Beamte, Angestellte und Arbeiter von Ober-Ingelheim erhielten am 6. August 1935 ein Schreiben des Ortsbürgermeisters betreffend des Verbots des Einkaufs in jüdischen Geschäften zur Kenntnisnahme zugeschickt, welches von den einzelnen Personen abgezeichnet werden musste.

Nicht jüdische Haushaltshilfen durften ab dem 1. Januar 1936 nicht mehr für die jüdischen Familien Löwensberg, Neumann und Mayer arbeiten.

Nicht nur die Juden selbst, sondern auch diejenigen, die weiterhin Kontakte zu jüdischen Mitbürgern pflegten, bekamen die Reaktionen des NS-Regimes zu spüren. So erhielt beispielsweise der Gastwirt des „Runden Eck“ [NI, Untere Stiftstraße] ein Schreiben der NSDAP-Ortsgruppe Nieder-Ingelheim [vom 20.09.1935], in dem ihm vorgeworfen wurde, dass er zur Kirchweihe Fleisch von jüdischen Geschäften bezogen hätte. Es sei völlig unpassend, „seine arischen Gäste mit Fleisch zu bedienen, das von jüdischen Metzgern bezogen“ würde.“

Auch 1935 als ein eifriger Parteigenosse eine Quittung fand, aus der ein Fleischkauf der Familie Liebrecht bei dem jüdischen Metzger Jesselsohn hervorging, wurde Julius Liebrecht, der Schwiegersohn von Albert Boehringer, im Parteiblatt Stürmer öffentlich deswegen angeprangert und musste sich vor dem Parteigericht in Bingen rechtfertigen (Kißener 2015, S. 57). Max Jesselsohn musste und konnte im Januar 1936 in die USA auswandern. Die vorsichtige Hilfe der Familie Boehringer für verfolgte jüdische Angestellte konnte gegen diesen allgemeinen Trend nichts ausrichten.

Insgesamt sorgte diese Verdrängung von Juden aus dem Arbeitsleben "auch in Ingelheim dafür, dass Konkurrenz beseitigt, Wohnungen verfügbar und Arbeitsplätze" frei wurden, deutet Meyer (Gefolgschaft S. 443) die Interessenlage mancher Zeitgenossen dabei.


d) "Arisierung" und "Auswanderung"

Eine indirekte Vertreibung aus Deutschland war von Anfang an das Ziel nationalsozialistischer Judenpolitik, denn die "Auswanderung", die schon bald jüngere Deutsche jüdischer Abstammung anstrebten, war alles andere als freiwillig; auch stieß ein solches Vorhaben auf erhebliche Schwierigkeiten.

In vielen Staaten wurde nämlich die Einwanderung von Juden aus Deutschland nicht gewünscht oder die Genehmigungsverfahren sehr restriktiv gehandhabt, so in den USA, in Südrhodesien, Chile, Kolumbien und Argentinien. Und in Palästina versuchte die Mandatsmacht Großbritannien wegen arabischer Proteste, Unruhen und Massaker seit den 20er Jahren (gegen die massiv aus Russland dort einwandernden Juden) gleichfalls die Einwanderung deutscher Juden zu verhindern.

Außerdem wurden hohe Gebühren von den Auswanderern verlangt, nicht nur vom Einwanderungsland, sondern von der deutschen Reichsregierung, was seit 1938 einer völligen Enteignung der Auswanderer gleichkam, denn um die Kosten für eine Auswanderung zu bezahlen, mussten solche Juden ihren Grundbesitz oft weit unter Wert verkaufen.

Profitiert hat von solchen Immobilienverkäufen einmal die Stadt Ingelheim selbst, aber auch Gewerbetreibende und öffentliche Bedienstete. Meyer (Gefolgschaft, S. 448) beschreibt einen konkreten Fall:

"Eine NSDAP-Mitgliedschaft war bei der so genannten „Arisierung“, also der Umwandlung von jüdischem in „arisches“ Vermögen, durchaus von Vorteil. Ein Studienassessor, der großes Interesse am Haus eines Juden zeigte, schrieb am 4. Januar 1939 an den Ober-Ingelheimer Bürgermeister: „Wenn bis zu diesem Zeitpunkt die Auswanderung des Juden nicht klappen sollte, wäre es evt. möglich, ihn in irgend einer anderen Wohnung diesen Zeitpunkt abwarten zu lassen, zumal er doch seinen Haushalt auflösen muss. Es ist doch auch ein Unding, dass zwei alte Juden ein ganzes Haus bewohnen, während auf der anderen Seite eine ganze Familie keine Wohnung hat und darunter leidet.“

Während in den Jahren 1933 - 1937 solche Beinahe-Enteignungen noch ohne Rechtsgrundlage erfolgten, durch bloßen Diskriminierungsdruck, wurden ab 1937 durch mehrere Verordnungen nun auch die juristischen Grundlagen dafür geschaffen, dass Juden in Deutschland völlig aus dem Wirtschaftsleben verdrängt wurden, dass sie ihre Geschäfte oder Handwerksbetriebe schließen und verkaufen mussten.

"In Ingelheim zählten die jüdischen Viehhändler und Metzger, die Weinhändler und Kaufleute zu den Betroffenen. Von wirtschaftlicher Bedeutung für Ingelheim waren die Düngemittelfabrik Kahn & Herrmann, später Herrmann & Koch, in Nieder-Ingelheim und die Malzfabrik Löwensberg in der Mainzer Straße in Nieder-Ingelheim." (Meyer, Gefolgschaft S. 449; dort auch die Einzelheiten zum Schicksal der Besitzer beider Fabriken)

Diese staatlich organisierte Ausraubung der deutschen Juden fand ihren Höhepunkt in einer Verordnung vom 25.11.1941: Den vom Staat deportierten Juden wurde die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen und dadurch verfiel auch ihr Besitz, der noch vorhanden sein mochte, dem deutschen Staat. So fragte im Jahr 1942 der Ingelheimer Bürgermeister beim Finanzamt in Mainz an, ob Lina Koch, die zwischenzeitlich nach Mainz verzogene Erbin der stillgelegten Düngemittelfabrik, tatsächlich ins Ausland abgeschoben worden sei, damit die Stadt das Gelände im Blumengarten - heute die Ingelheimer Sportanlagen - übernehmen könne. Das wurde bestätigt, denn Lina Koch war von Mainz aus im März 1942 in ein (unbekantes) KZ nach Polen deportiert worden, was sie nicht überlebt hat.

Die Familie Löwensberg, Besitzer der Nieder-Ingelheimer Malzfabrik, konnte noch rechtzeitig vor einer Deportation in ein Vernichtungs-KZ 1941 in die USA ausreisen.


e) Die "Reichskristallnacht" in Ingelheim und ihre Folgen

Einzelheiten in der Master-Arbeit von Christian Müller.

Schon im ersten Halbjahr 1938 verstärkte sich die antijüdische Hetze in der NS-Presse. So informierte die Ingelheimer Zeitung regelmäßig im Jahr 1938 über bevorstehende und vollzogene "Arisierungen" in den Ingelheimer Gemeinden, um den Druck zur Auswanderung zu verstärken (Müller 2020, S. 43-44: 20.8.38, 3.9.38, 3.10.38, 13.10.38).

Da wurde von Josef Goebbels am Abend des 9. November 1938 über Partei- und Polizeikanäle angeordnet, dass "spontane Kundgebungen ... [im ganzen Reich] zu organisieren und durchzuführen" seien. In dieser zentral gesteuerten Aktion, nach dem Berliner Volksmund auch "Reichskristallnacht" genannt, "wurden ca. 267 Synagogen, 7000 jüdische Geschäfte und zahlreiche Wohnungen angezündet und vollständig zerstört. Mehr als 25000 Juden wurden [vorübergehend] festgenommen."

Allein im KZ Buchenwald wurden nach dieser Aktion 9.845 Juden festgehalten (darunter auch die meisten rheinhessischen Juden), wobei 255 von ihnen durch Misshandlungen starben. (Meyer, Gefolgschaft S. 453).

Zitate zu den Ingelheimer Ereignissen vom Vormittag (Nieder-Ingelheim) und Nachmittag (Ober-Ingelheim) des 10. November 1938 (Meyer, S. 453-454):

„Eine Gruppe von österreichischen NSDAP-Mitgliedern aus dem Ingelheimer Arbeitslager in Wackernheim und Ingelheimer SA-Leute drangen in die Wohnung des Lehrers und Kantors Ludwig Langstädter ein, schlugen dort alles kurz und klein und warfen Sachen zum Fenster hinaus. Der Ober-Ingelheimer Willi Dapper drohte, mit einem Hammer in der Hand, die Wohnungsinhaber zu erschlagen. Langstädter und seine Ehefrau Betty fürchteten um ihr Leben und flüchteten durch das Fenster zur Straße.

Andere Trupps begaben sich zu den jüdischen Geschäftshäusern, zu denen auch die jüdische Metzgerei Strauß gehörte, zerschlugen die Türen und Fenster, zertrümmerten die Wohnungs- und Ladeneinrichtungen und warfen die Ware auf die Straße. Der Viehhändler Alfred Mayer wurde zusammengeschlagen. Als seine Frau ihm zur Hilfe kommen wollte, wurde auch sie tätlich angegriffen. Die Wohnungen der Familien Schäfer und Raphael wurden zerstört, die Besitzer flüchteten sich zur Familie von Fritz Weitzel. Die Zerstörung der Geschäfte und Wohnungen hielten den ganzen Tag über an... Es lassen sich keine Hinweise dafür finden, dass andere Einwohner zugunsten der Opfer eingegriffen hätten.

Trotzdem gab es im Einzelfall Hilfsaktionen. So gewährte Hermann Berndes der jüdischen Familie Kahn-Loeb nach der Verwüstung ihrer benachbarten Wohnung Unterkunft, bis sie wieder benutzbar war (Geißler 2015, S. 37).

Am Nachmittag ging es nach Ober-Ingelheim. Da die Synagoge in dicht bebautem Gelände stand und wegen der Proteste von Anwohnern nicht angezündet werden konnte, sollte sie anders verwüstet werden, Anführer dabei waren zwei Ober-Ingelheimer Volksschullehrer, die SA-Sturmbannführer Adolf Mathes (Rektor der Höheren Bürgerschule) und SA-Obertruppführer Gustav Hermann (Vey, Hakenkreuz S. 197):

Am 10. November wurde die 97 Jahre alte Synagoge in Ober-Ingelheim mit Vorschlag- und Schmiedehämmern sowie Brecheisen und Äxten buchstäblich zerschlagen. Zu Beginn der Synagogenzerstörung „hing der damalige Ortsgruppenleiter Mathes den Mantel des Rabbiners um eine Säule und schlitzte diesen mit einem großen Schächtmesser von unten bis oben auf.“ Neben Adolf Mathes war der Ortsgruppenleiter Gottlieb Glässel persönlich rege an den Ausschreitungen beteiligt und gab einschlägige Anweisungen.

Die gleichgeschaltete Ingelheimer Zeitung triumphierte einen Tag später und berichtete, es seien von den Schaulustigen „Rufe der Empörung laut [geworden] über das hetzerische und verbrecherische Verhalten des Judentums.“

Von Ober-Ingelheim aus fuhr eine Teil des Rollkommandos mit dem requirierten Lastwagen von Berndes weiter zu den rheinhessischen Orten Sprendlingen, Wallertheim, Partenheim und Jugenheim, wo das Zerstörungswerk fortgesetzt wurde.

Nach dem Krieg fanden mehrere Gerichtsverfahren gegen die Täter der Judenpogrome in Ingelheim statt, die mit Gefängnisstrafen für die Haupttäter endeten (siehe: Vey, Hakenkreuz, S. 199 ff.).

Meyer, Gefolgschaft, S. 455:
Auch in Ingelheim sahen sich die Juden weiteren Schikanen ausgesetzt. Am 11. November 1938 empfing der Gendarmeriemeister Eisfeller in der Polizeistation Ober-Ingelheim einen Funkspruch vom Kreisamt Bingen, der auch hier [wie im ganzen Reich] die Kosten für die Aufräumarbeiten den jüdischen Bürgern auferlegte. Am gleichen Tag wurden Listen über die Inhaftierung von männlichen Juden zusammengestellt. Die Liste von Nieder-Ingelheim ist erhalten geblieben. Danach waren am 10. November 1938 folgende Juden festgenommen und ins Mainzer Gefängnis bzw. ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht worden:

Salomon Löwensberg, Alfred Mayer, Otto Friedrich Mayer, Karl Neumann und Sally (Salomon) Strauß. Doch es sind nicht alle erfasst, es fehlen z. B. Moritz Haas, Max Jesselsohn, Hans Neumann und andere.

Einige der Inhaftierten kamen nach einer Woche wieder frei, andere wurden bis zu sechs Wochen und länger festgehalten. Da es das erklärte Ziel der nationalsozialistischen Regierung war, die Juden endgültig aus Deutschland zu vertreiben, wurden viele von ihnen nur unter der Zusage, auf schnellstmöglichem Weg auszureisen, entlassen.

So erging es auch Hans Neumann aus Nieder-Ingelheim. Am 26. November 1938 wurde der 18-Jährige auf Anordnung der Gestapo Frankfurt aus dem KZ Buchenwald entlassen. Gleichzeitig wurde die Gemeinde Nieder-Ingelheim aufgefordert, die Auswanderung zu überwachen und darüber zu berichten. Hans Neumann musste bei der Polizei in Frankfurt am Main vorstellig werden, wo ihm sein beantragter Reisepass ausgehändigt wurde. Ab dem 12. Dezember 1938 lebte er bei seinen Eltern, die zwischenzeitlich nach Wiesbaden verzogen waren, bis er am 17. Januar 1939 nach Nordamerika emigrierte. ...

Und S. 457:

Viele Ingelheimer Juden hatten bis 1942 aufgegeben, waren emigriert, hatten ihren Besitz verkaufen müssen. Immerhin wurde in der Ingelheimer Zeitung zwischen 1937 und 1938 mindestens zwanzigmal über den Verkauf eines jüdischen Hauses und/oder Geschäftes, die Enteignung von Gelände etc. berichtet. Die tatsächliche Zahl der Verkäufe dürfte deutlich höher liegen, denn die Zeitungsberichte erfassten zum Beispiel nicht die Verkäufe von Grundstücken und Weinbergen.

Einem Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Ingelheim an den Landrat in Bingen ist zu entnehmen, dass am 1. November 1939 nur noch neun jüdische Familien in Ingelheim lebten. Ihre letzten Jahre waren von Arbeitslosigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung, von Hunger und Schikanen geprägt.


f) Die Deportation und Vernichtung der hier gebliebenen Juden

Bei der bekannten "Wannsee-Konferenz" vom 20. Januar 1942 wurden schließlich die organisatorischen Maßnahmen getroffen, um einerseits auch diese letzten auf dem Reichsgebiet verbliebenen Juden, aber andererseits auch alle Juden im deutschen Einflussbereich in Europa nach Polen zu deportieren und zu töten - durch Arbeit oder die Arbeitsunfähigen sofort.

Meyer, Gefolgschaft S. 461:

Am 20. September 1942 erfolgte in Ingelheim die Deportation von 17 Juden; 15 von ihnen sind im KZ umgekommen, gelten als vermisst oder wurden für tot erklärt. 1943 wurde die Inhaberin eines Tabakwarengeschäftes in Nieder-Ingelheim, die Jüdin Ww. Flora Roth, in das KZ Theresienstadt [Zwischenstation vor dem Weitertransport in die Vernichtungslagern in Polen] deportiert. Sie wurde dort 1945 befreit.

Die wissenschaftliche Forschungsstelle von Yad Vashem in Jerusalem hat auch die Daten des Eisenbahn-Sammeltransportes der rheinhessischen Juden am 30. September 1942 von Darmstadt nach Treblinka gesammelt und veröffentlicht. Darunter waren auch die letzten 17 Ingelheimer Juden (siehe die Extraseiten zu Renate Wertheim und Ludwig Langstädter):

https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=de&itemId=9439306&ind=12

Das letzte offizielle Schreiben der Stadt Ingelheim in dieser Sache stammt vom 29. September 1942. Der damalige Beigeordnete Freund bezog sich auf den Brennstoff, der anlässlich der Transporte von der Stadt zur Verfügung gestellt worden war: "Aus Anlaß des Abtransportes der Juden sind 15 Liter Brennstoff verbraucht worden. Ich bitte um Ersatz."

Es folgt die Abbildung der Deportierten-Liste aus dem Ingelheimer Stadt-Archiv, Meyer/Klausing, S. 460:

Zur Gedenkstele am Ort der zerstörten Synagoge.

 

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Gs, erstmals: 23.01.12; Stand: 16.10.20