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Die "Route Charlemagne" und der "Napoleonstein" in Ingelheim


Autor und Fotos: Hartmut Geißler


Nicht nur zur Förderung des Handels, sondern auch für schnellere Truppenbewegungen ließ Napoleon möglichst gerade Straßen bauen. Zum Teil wurden dazu die Trassen alter Römerstraßen benutzt, denn diese waren nach demselben Prinzip gebaut. Auf Grundstücksgrenzen brauchte man dabei als Sieger ebenso wie die Römer wenig Rücksicht zu nehmen.

Der neue Präfekt für das Departement Donnersberg André Jeanbon hatte bei seinem Amtsantritt am 20.12.1801 vor allem "zwey große Gedanken, die er ... ehrenvoll ausgeführt hat. Die Ausrottung der Räuber und die Anlegung einer großen Straße von Mayntz bis Coblentz."

Ihn bewegten dabei besonders wirtschaftliche Gedanken, denn seit der Rhein 1797/1801 die Grenze zu den deutschen Staaten geworden war und Maut den linksrheinischen Handel behinderte, benutzten die Handeltreibenden vor allem die nicht-französische rechte Rheinseite. So ließ er neben der strategisch noch wichtigeren Straße (Straße 1. Klasse) von Mainz nach Paris (die Pariser Straße, wie sie in Mainz bis heute heißt), die von Napoleon in Auftrag gegeben war, die linksrheinische Verbindung von Basel nach Nijmegen an der neuen Rheingrenze entlang in seinem Departement neu bauen bzw. ausbauen, die "Route Charlemagne", wie sie in unserer Gegend genannt wurde, eine Straße 2. Klasse (siehe rechts).

Hesse, Rheinhessen, urteilte 1835 über die Vergabepraxis der Bauarbeiten: Diese Straßen wurden auf Staatskosten in Entreprisen gegeben, und zwar in einer Weise, daß nur Wenige hierbei concurriren konnten. Einige Unternehmer fanden bei den vortheilhafetn Bedingungen sehr ihre Rechnung. (S. 114)

Zwischen Gaulsheim und Bingen war ihr Bau schwierig, weil es dort damals noch Stellen gab, an denen die Felsen bis ans Wasser reichten, wo also noch gar keine Straße bestand. Jeanbon St. André ließ es sich daher nicht nehmen, beim Baubeginn 1803 mit einem Schiff rheinabwärts zu fahren und eigenhändig eine erste Felssprengung vorzunehmen.

Im Ingelheimer Bereich war ihr Bau aber nicht so schwierig, da man hier auf eine alte Straße zurückgreifen konnte. Bodmann schrieb dazu im Jahrbuch 1811, S. 239: Der Weg von Bingen nach Mainz, der eine Ausdehnung von 25,878 Metern hat, gehört zu den am besten angelegten Parthien des Departements.

Ein Jahr vorher, im Jahrbuch 1810, hatte er noch vermerkt: Il reste à rétablir maintenant plusieurs autres traverses pareillement ruinés par la même cause, la première est celle de Niederingelheim. Le projet en est proposé et sera sans doute partie des travaux de l'an 1810. = Es bleiben zur Zeit noch mehrere andere Ortsdurchfahrten zu reparieren, die aus demselben Grunde (=Artillerietransporte) ähnlich kaputt sind (wie in Oppenheim, Frankenthal), vor allem die von Niederingelheim. Das Projekt ist schon beantragt und wird ohne Zweifel Teil der Arbeiten des Jahres 1810 sein.

Bei diesen Ausbesserungsarbeiten ging es auch um Begradigungen, Verbreiterungen und um neues Pflaster. Diese "Route Charlemagne" zwischen Wackernheim und Nieder-Ingelheim entspricht der heutigen L 419 und verläuft von Mainz durch Finthen, im Bogen um die Wackernheimer Senke herum, dann zweigt sie von der alten Landstraße Finthen - Ober-Ingelheim ab, führt mit zwei kleineren Knicken zum ehemaligen Hotel Multatuli und von der dortigen Plateau-Kante hinab fast schnurgerade nach Bingen-Gaulsheim. Sie wurde zur Achse, an der sich das neuzeitliche Nieder-Ingelheim industriell entwickelte, und heißt heute Mainzer bzw. Binger Straße.


Oben: Übersichtkarte der Gemarkung Nieder-Ingelheim des französischen Katasterplans von 1812, genordet, Rhein am oberen Bildrand, mit der geraden Straße am unteren Rand. In ihrem rechten Bereich sieht man den Straßenknick am Hotel Multatuli und weiter nach Westen rot das Saalgebiet. Zu Einzelheiten dieses ersten Ingelheimer Katasterplanes hier klicken!

Unten das Straßenbaudenkmal, auch "Napoleonstein" genannt, gegenüber dem ehemaligen Hotel Multatuli:

Erich Hinkel hat mich auf eine Anmerkung in Rudolph Eickemeyers "Über den Sittlichen und Kunstwerth öffentlicher Denkmäler" hingewiesen, erschienen in der Baumgärtnerische Buchhandlung, Leipzig, 1820 (!), S. 99, wonach die auf Napoleon hinweisende Beschriftung ausgemeißelt worden sei; wenn dies stimmt, woran eigentlich nicht zu zweifeln ist, dann müsste sie später wieder ergänzt worden sein - wann, durch wen, warum? Für diese Tatsache spricht die nicht sehr glückliche Raumverteilung beider Napoleon-Inschriften, die nicht wie diejenigen der Ost- und Westseite den ganzen Raum des Sockels nutzen. Auch glaubt Hinkel, dass die Vorderseite komplett abgemeißelt und neu beschrieben wurde, wodurch 2 cm vom Stein entfernt wurden. Das sind durchaus Indizien für eine Überarbeitung. - Aber wer soll die Neubearbeitung später angeordnet und bezahlt haben? Etwa erst ein Veteranenverein in den 40er Jahren? - Diese Fragen müssen vorerst offen bleiben.


Straßenseite = Norden

ROUTE
DE
CHARLE-MAGNE

 

 

 

 


TERMINEE EN LAN I
DU REGNE DE
NAPOLEON
EMPEREUR DES FRANCAIS
SOUS LES AUSPICES DE MONSR
JEANBON ST ANDRE PREFET DU
DEPT DU MONT-TONN(E)RRE

 

Die Übersetzung steht auf der Südseite:

STRASE
KARLS
DES GROSEN

 

 

 

 


VOLLENDET IM JAHRE I
DER REGIERUNG
NAPOLEONS
KAISERS DER FRANKEN
UNTER DER SORGFALT DES HERRN
JEANBON ST ANDRE PREFECTEN
DES DEPT VOM DONNERSBERG

 

Die Leitung der Bauarbeiten hatten die Herren (vgl. auch Travaux publics):

- Six,        Divisionsinspekteur der Brücken und Straßen
- St. Far,  Chefingenieur des Departements
- Arnold,  Ingenieur des Arrondissements Mainz
- Odobel,  Conducteur Principal
- Jung,     Bürgermeister von Nieder-Ingelheim

Sie und der Bauunternehmer sind auf den beiden anderen Seiten verzeichnet:

 

 

 

DIRECTEURS DES TRAVUX(sic!)

 

 

 

M. SIX INSP.R DIVISION.R
DES PONTS ET CHAUSSEES
M. ST FAR ING.R EN CHEF
DU DEPARTEMENT
M. ARNOLD ING.R DE L'ARROND
DE MAYENCE
M. ODOBEL CONDR P.AL
M. JUNG MAIRE DE N. ING.M

(Ostseite)

 

 

L'ENTREPRENEUR
DES TRAVAUX

 

 

MSR JAQUES KRAETZER
DE MAYENCE

A FAIT POSER
LE PRESENT MONUMENT
LE XVI OCTOBRE
MDCCCVII.

 


(Der Bauunternehmer Herr Jaques Kraetzer aus Mainz hat dieses Denkmal setzen lassen den XVI Oktober MDCCCVII)

(Westseite)


Zum entrepreneur Kraetzer siehe die Bemerkung Hesses oben!

Die Benennung nach Karl dem Großen passte in das propagandistische Konzept Napoleons, nämlich die Betonung der Zugehörigkeit des zu Frankreich geschlagenen linken Rheinufers zum "Frankenreich" durch die Erinnerung an das Reich Karls des Großen.

Begründet wurde sie damit, dass man beim Bau Reste einer alten Straße Karls des Großen gefunden zu habe, wahrscheinlicher aber einer alten Römerstraße, denn über Straßenbauten Karls des Großen ist nichts bekannt.

Eickemeyer (s.o.) ordnete 1820 die beim Bau gefunden Reste einer früheren Straße in die römische Zeit ein ("August" , d.h. Kaiser Augustus; Gs).

Bodmann schreibt im Jahrbuch 1811, S. 239:
Wegen einigen aufgefundenen Trümmern einer alten Straße, welche, der neuen beinahe gleichlaufend, den Rhein hinabzieht, hat man derselben den Namen Straße Karls des Großen gegeben.

Der Departementspräfekt hatte allerdings den Bau der Straße begonnen, ohne sich vorher die Erlaubnis der Pariser Regierung einzuholen. Er benutzte dafür sogar eigenmächtig finanzielle Mittel, die eigentlich zur Verschönerung von Paris gedacht waren.

Als Anekdote wird überliefert, dass der überraschte und anfangs verärgerte Napoleon schließlich spöttisch darauf reagiert habe: Jeanbon a voulu faire son petit Simplon = Jeanbon hat sich seine kleine Simplonstraße bauen wollen) (Springer, S. 293). Die Simplonstraße wurde als erste Alpenstraße 1800 bis 1806 auf Befehl Napoleons gebaut, weil die Überquerung des Passes am Großen St. Bernhard für das Militär zu mühselig war. Ihr Bau war damals eine technische Meisterleistung.


Um solche Chausseen möglichst schnell mit Schatten für die Reisenden und wahrscheinlich für auch die marschierenden Soldaten zu versorgen, sollten Obstbäume an den Straßenrand gepflanzt werden (Verordnung von 1802). Diese Anordnung versuchte der Präfekt auch gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen, z. B. in Pfeddersheim, wo man fürchtete, hinterher für jeden Baum Steuern bezahlen zu müssen (Springer, S. 365/66).

Etappenplätze für marschierende Truppen waren Mainz und Bingen, nicht Ingelheim. Nieder-Ingelheim hatte aber eine Poststation; in einem denkmalgeschützten Gebäude an der Mainzer Straße 67 befindet sich heute die Gaststätte "Zur Alten Post". Hier machte auch Goethe bei seinem Besuch im September 1814 Halt.

Nachdem er schon am 16. August von Winkel aus, wo er bei der Familie von Brentano zu Gast war, am Rochus-Fest in Bingen teilgenommen hatte, unternahm er am 4. 9. bzw. am 5. 9. zwei Ausflüge nach Nieder-Ingelheim und Ober-Ingelheim auf der Suche nach Altertümern und nach dem "Eilfer Ingelheimer Roten" (= 1811er Rotwein), den aber offenbar die russischen Offiziere unter General Blücher im Frühjahr schon völlig ausgetrunken hatten.

In den Schilderungen beider Besuche sowie in einem Brief an seinen Sohn August vom 6. 9. erwähnt Goethe ausdrücklich die neue Chaussee:

Neulich ward bei Gelegenheit des großen Chausseebaues Ingelheim vortrefflich gepflastert, das Posthaus gut eingerichtet, Frau Glöckle nennet sich die Postmeisterin, jetzt von Reisenden, besonders Engländern und Engländerinnen, fleißig besucht. (zum 4. 9.)

... gelangten auf die neue treffliche Chaussee... Da wir nach Ober-Ingelheim verlangten, so verließen wir die Straße und fuhren rechts auf einem sandigen Boden durch junge Kiefernwäldchen... (zum 5. 9.)

die neue Chaussee (Brief vom 6. 9.)

Offenbar hatten also die Straßenbaubemühungen Jeanbons ein beeindruckendes Werk hinterlassen, das auch den mit der Kutsche fahrenden Goethe beeindruckte.



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Gs, erstmals 05.11.05; Stand: 02.12.20