Autor: Hartmut Geißler
Die Wormser Annalen, die aus der Stauferzeit und den Jahrzehnten danach berichten, haben zum Jahr 1254 aufgezeichnet, dass eine Burg der Bolander in "Ingelheim" (so die Schreibweise der Annalen) von einem soeben gegründeten Friedensbund der Städte Mainz und Worms zerstört worden sei. Dieser Städtebund war nach dem Tode Kaiser Friedrichs II. und aufgrund der allgemeinen Friedlosigkeit zur Wahrung des Friedens und zum Abbau hinderlicher Zölle im Februar 1254 gegründet worden; ihm schlossen sich bald weitere Städte und auch manche Territorialherren an. Tonangebend war damals die Bürger in Mainz, nicht der Erzbischof Gerhard I. von Dhaun, der sich später dem Friedensbündnis anschloss. Er geriet 1256 in die Gefangenschaft des Herzogs Albrecht von Braunschweig, konnte sich nur gegen eine hohe Lösegeldzahlung befreien und starb 1259 in Erfurt.
Als erstes belagerten die Mainzer ein "castrum", also nach dem damaligen Sprachgebrauch eine befestigte Anlage, eine Burg, die sich ein Werner [IV.] von Bolanden in Ingelheim "erbaut hatte", und nahmen sie am 13. September 1254 ein. Sie wurde "von Grund auf zerstört".
Hier der lateinische Wortlaut aus den Annales Wormatienses breves (MGH SS 17, S. 57):
"Resistente tamen domino Wernhere de Bolandia, obsessum est castrum suum quod construxerat in Ingelheim, de quo multos gravaverat. Et dictum castrum expugnatum fuit a civibus Moguntinis et aliis pacis confoederatoribus anno 1254. Idibus Septembris et funditus destructum."
Übersetzung (Gs):
"Als Werner von Bolanden sich trotzdem [den Forderungen des Städtebundes] widersetzte, wurde seine Burg, die er in Ingelheim gebaut hatte, von der aus er viele Leute belästigt hatte, belagert. Und diese erwähnte Burg wurde von Mainzer Bürgern und anderen Mitgliedern des Friedensbundes im Jahr 1254 am 13. September erobert und von Grund auf zerstört."
Ähnlich formulierte es 1570 auch Friedrich Zorn, der diese Annalen benutzte, allerdings irrtümlich den 10. September als Tag der Eroberung angab. Nach der Eroberung und ihrer Schleifung durfte diese Burg Werners IV. von Bolanden üblicherweise auch als "schädliches haus" nicht wieder befestigt aufgebaut werden (so Orth, S. 29).
Die Zollerhebung an der Burg Sterrenberg bei Kamp-Bornhofen, die die Bolander gleichfalls als Reichslehen hatten, konnte der Städtebund offenbar niemals unterbinden, da von ihr mehrere Zollbefreiungen aus den 50er und 60er Jahren bekannt sind, weil weiterhin Zoll erhoben wurde (so Volk, S. 493)
Wo aber lag das "castrum" Werners von Bolanden in "Ingelheim"?
Zwei Stellen wurden bisher dafür genannt:
1. neben der heutigen "Burgkirche" in Ober-Ingelheim
2. in oder neben dem Saalgebiet in Nieder-Ingelheim
Für Andreas Saalwächter war der Standort klar. Er schrieb in seinem Aufsatz "Von der Steig bis zum Rathaus" in BIG 9 (1958), S. 116:
(Die Bolander) "hatten um das Jahr 1190 den Ingelheimer Grund mit dem königlichen Saal zu Ingelheim als ein Reichslehen. Die Bolandischen Zöllner stoppten am Saale den vorbeiflutenden Handelsverkehr und erhoben einen Straßenzoll, dessen Name banpenninc (Bannpfennig) in einer Schenkung des Kaisers Otto III. (983-1002) an den Erzbischof Willigis von Mainz erhalten ist. Dieser königliche Straßenzoll war zwar auf der linken Rheinseite von der steinernen Selzbrücke bei Ingelheim bis nach Heimbach dem Erzbischof Willigis geschenkt worden, für das Reichsgebiet Ingelheim aber bestehen geblieben. Die Forterhebung des Zolles auf letzterem ist die Ursache des Zollstreits zwischen dem Rheinischen Städtebund unter Mainzer Führung und den Reichsvasallen von Bolanden, wobei ihre Zollstätte, die ja eine solche des Reiches war, am 10. September 1254 zerstört worden ist. Soweit die Reste des Kaiserpalastes damals noch erhalten waren, sind sie schwerlich angetastet worden."
Er nahm also an, dass 1254 eine Bolander Zollstätte an der Straße zerstört wurde, nicht etwa der Saal als "castrum" ("Burg"). Damit berücksichtigt er aber nicht den Wortlaut der Wormser Chronik, wo sehr deutlich von einem "Castrum" die Rede ist, also von einer Burg, die "obsessum" (belagert) "expugnatum" (erobert) worden sei. Er hielt in einer Auskunft an Wilhelm Diehl 1932 den Vorgängerbau des evangelischen Gemeindehauses am Rathausplatz für das Zollgebäude, während mit dem "castrum" wahrscheinlicher der Saal selbst gemeint war. Aber das muss sich nicht widersprechen.
Für Ober-Ingelheim spricht:
Die "Kirchenburg" um die "Burgkirche", die erst seit 1940 so genannt wird, ist mit starken Befestigungsmauern umgeben, an die sich auf beiden Seiten die Wehrmauern des Ortes Ober-Ingelheim anschließen. Wann diese Kirchenburg erbaut wurde, ist unbekannt, aber die Ringmauer um den Ort wurde später an sie drangebaut.
Karl-Heinz Flath konnte sich den romanischen Kirchturm durchaus als ehemaligen Bergfried einer Burg vorstellen. Er hat deswegen den Handlungsort seines historischen Spiels "Der von Bolanden"über die Zerstörung der Bolander Zollburg nach Ober-Ingelheim gelegt (uraufgeführt auf der Freilichtbühne neben der Burgkirche 1955 und in überarbeiteter Fassung ein zweites Mal 2005; der Verfasser wirkte als Komparse mit).
Seine Ortswahl hat er in dem Nachwort des Neudruckes "Fakten, Folgerungen, Fantasien" begründet. Er berichtet darin auch, dass der Heimatforscher Philipp Krämer in der Nordost-Ecke des Burgkirchenfriedhofes Hinweise für einen Burgstandort fand, zumindest eines Burghauses, das durch einen Gang mit der unteren Turmpforte verbunden gewesen sein könnte. Da das Geländeniveau vor der Nutzung als Friedhof erheblich tiefer gelegen haben müsse, sei dort auch von der Höhe her ausreichend Platz für ein mindestens zweistöckiges Gebäude gewesen. Im Schutt des Verlieses des NW-Turmes hat man eine rötliche Fliese mit einem eingeprägtem achtspeichigen Rad gefunden – das Wappen der Bolander. 1213 wird nach Krämer für Ober-Ingelheim ein "Borgedor" (mit unklarer Lage) und 1346 ein "Burgweg" in Haderbüchern erwähnt. Beides kann aber die Kirchenburg meinen, nicht die Bolander Zollburg.
Auch Karl Anton Schaab sowie August von Cohausen haben beide etwa gleichzeitig Mitte des 19. Jahrhunderts die Ingelheimer Bolandenburg in Ober-Ingelheim lokalisiert. Ihnen folgte Karl Joh. Brilmayer um 1900. Ernst Kähler legte dar, dass man den Bolanden-Besitz durch die Mauer- und Grabenverläufe in Ober-Ingelheim im Bereich Rinderbach/Ringgasse lokalisieren könne und – mittelbar – auch vom Merianstich von 1646 durch die Lage der von den Bolanden nachfolgend angeblich gegründeten Kapelle. Heinrich A. Herbert plädierte in seinem "Ingelheimer Lesebuch" (S. 52-55) ebenso für Ober-Ingelheim.
Für Nieder-Ingelheim spricht:
Der als mächtiger Stumpf erhaltene südwestliche Wehrturmrest in der Mauer des Saales heißt bis heute Bolander, Boländer oder Bolender. Die erste schriftliche Erwähnung ihres Namens findet sich in der Abbildung des Saal-Gebietes in Sebastian Münsters Cosmographie. Der Turm könnte ein Teil der Zollburg gewesen sein. Saalwächter berichtet im Rhh. Beob. vom 30.01.1921, dass es im Jahre 1617, als der Turm noch stand, eine Uhr darauf gegeben habe. "der Boländer diente bis in die französische Zeit als Gefängnis für die Strafgefangenen des Ingelheimer Grundes und wurde bei dem damaligen großen Straßenbau niedergelegt, wobei die Steine als Straßenschotter Verwendung fanden."
In der Stauferzeit hatten die zeitweise mächtigen Bolander das Amt des Vogtes für den Ingelheimer Grund inne, dessen ehemalige Pfalz in salischer oder staufischer Zeit zu einer Burganlage vergrößert und umgebaut worden war. Die Pfälzer Vogtei für den Ingelheimer Grund hatte ihren Sitz im Saal (ihr Gebäude liegt heute "Im Saal" Nr. 14). Für den Zweck einer Zollerhebung an einer Straße lag eine Bolanderburg in Ober-Ingelheim zu weit entfernt. Der Verkehr durch das Selztal in Süd-Nordrichtung (von Alzey/Nieder-Olm zum Rhein nach Frei-Weinheim) kann mengenmäßig damals nur sehr spärlich gewesen sein, was man an der geringen Bedeutung des Frei-Weinheimer Hafens ablesen kann. Zudem führte der Rheinweg, der damalige Hauptweg (nie "Straße" genannt) durch das Selztal, auf der anderen Seite der Selz entlang, weitab von der Burgkirche, während die Mainzer Straße ohne Häuser dicht am Saal vorbei lief. Eine bessere Straße durch die Orte des Selztales ist erst im 19. Jh. von der hessischen Regierung gebaut worden (die "Grundstraße"). Eine Zollburg für den Selztalhandel zu bauen, hätte sich gewiss nicht gelohnt. Zudem hätte das den Mainzer Handel entlang der Rheinschiene auch nicht tangiert, es sei denn, man nimmt an, dass der Handel von Mainz nach Bingen den Umweg über Ober- Ingelheim gemacht hätte.
Die Lage an der Hauptstraße und die Turmbezeichnung sprechen also für Nieder-Ingelheim.
Alexander Burger (S. 67) nimmt an:
"Die am 10. September 1254 erfolgte Zerstörung der Ingelheimer Zollstätte der Herren von Bolanden durch Anhänger des Rheinischen Städtebundes kann man wohl nicht als ein besonderes kriegerisches Ereignis ansehen. Sie war ein Glied in dem Aufbegehren des Bürgertums gegen die Raubritternester am Rhein, von denen aus Handel und Wandel so großer Schaden zugefügt wurde. Und da der "Bolander" in Nieder-Ingelheim auch nicht stark verteidigt war, waren besondere Anstrengungen zu seiner Beseitigung nicht notwendig."
Peter Classen (S. 128) entscheidet sich wegen des Verkehrsweges für Nieder-Ingelheim.
Christian Rauch (S. 17) ist unschlüssig: "Man nimmt an, daß diese Burg in der Südwestecke des Saalgebietes, also genauer des Wirtschaftshofes, eingebaut war, weil der dortige Turmstumpf heute noch "Bolender" genannt wird; das ist möglich, zwingend ist dieser Grund noch nicht, weil der Name Bolender auch für andere Rundtürme volkstümlich gebraucht wurde.“
Hans Schmitz spricht einfach von "Ingelheim" als Lagebezeichnung für die Bolander-Burg, fügt allerdings folgende und, wie ich meine, überzeugende Erwägung an:
"Diese (die Zollstätte) kann doch nur dann einen Sinn gehabt haben, wenn sie, wie es bei einer Lage im Saal in Nieder-Ingelheim der Fall wäre, eine wichtige Durchgangsstraße kontrolliert hätte. Dieses Argument schlägt seinerseits allerdings nur dann durch, wenn Burg und Zollstelle tatsächlich identisch waren. Doch gibt es für die Annahme einer räumlichen Trennung beider keinen triftigen Grund, geschweige denn irgend ein Zeugnis." (Schmitz, Pfalz und Fiskus, S. 45)
Gegen den Standort neben der Burgkirche spricht auch die Tatsache, dass nördlich der Burgkirche - zumindest später - keine Burg, sondern eine zweistöckige Kapelle, die St. Michaels-Kapelle mit einem Beinhaus stand, die auf dem Merianstich von 1645 (s. o.) noch gut zu erkennen ist (Schicke/Schönherr in BIG 42, 1997).
Gs, erstmals: 01.09.05; Stand: 15.02.22